Die Seuche und die Suppe
Sich füttern oder gefüttert werden. Die wesentliche Beschäftigung während der Corona-Quarantäne scheint banal. „Krankheit macht den Menschen viel körperlicher, sie macht ihn gänzlich zum Körper“, heißt es im Krankheitsroman schlechthin, dem „Zauberberg“ von Thomas Mann. Übersteigerter Alltag: Fenster putzen, Teststreifen zählen, Essen kochen oder es an die Türschwelle der Virenhöhle gestellt bekommen. Garen, kauen, verdauen. Verbrauchen.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Es ist Zeit, sich über die Nahrung in der Pandemie Gedanken zu machen. 23 Millionen Coronafälle zählt das Robert-Koch-Institut bis Mitte April. Das bedeutet auch: 23 Millionen Mal Quarantäne. Und die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Und selbst wenn es sich so anfühlt, als sei die Pandemie nun vorbei – sie ist es nicht. Die nächste Quarantäne kommt bestimmt.
Wo der Staat versagt, springen Unternehmen ein. „Immunsuppe“: So heißt das Produkt, mit dem Maggi jegliche Schutzmaßnahmen buchstäblich überflüssig gemacht, den Brühwürfel auf den Kopf getroffen hat. Seit Herbst 2021 wurde das Suppenpulver verkauft, schreibt die Nestlé-Pressestelle auf Anfrage. Es gab drei Sorten: „Gemüse-Cremesuppe“ mit Kürbis, „Blumenkohl-Broccoli“ und „Hühner-Nudelsuppe“. Wurde, gab: Denn nach einer Abmahnung durch die Verbraucherzentrale nahm Maggi die Suppe aus dem Sortiment. Die letzten Tüten lieferte das Unternehmen bis Ende März an die Supermärkte. Die Bezeichnung „Immunsuppe“ sei eine „unzulässige gesundheitsbezogene Angabe“, heißt es dazu auf dem Portal „Lebensmittelklarheit“ der Verbraucherzentrale.
Maggi erklärt sich
Immerhin macht Maggi Angaben, bemerkt der innere Kleinkunstkabarettist an dieser Stelle gehässig. Beim ärztlichen Bereitschaftsdienst hört man ja nur Tut-Tut-Tut. Leitung überlastet. Faxgerät kaputt. Gesundheitsamt: unbekannt verzogen. Hilft also nur Dickflüssiges. Das Kind ist in den Brunnen gefallen, jetzt fehlt nur noch die Würze.
Der Kreislauf aus Maßnahmen und ihrer Abschaffung, sobald sie wirken, fühlt sich an wie die Ewigkeit im Davoser Sanatorium des „Zauberbergs“. Die Zeit, „die man als Kranker im Bette verbringt“, sei „immer derselbe Tag, der sich wiederholt“, heißt es dort. „Man bringt dir die Mittagssuppe, wie man sie dir gestern brachte und sie dir morgen bringen wird. Und in demselben Augenblick weht es dich an – du weißt nicht, wie und woher; dir schwindelt, indes du die Suppe kommen siehst, die Zeitformen verschwimmen dir, rinnen ineinander, und was sich als wahre Form des Seins dir enthüllt, ist eine ausdehnungslose Gegenwart, in welcher man dir ewig die Suppe bringt.“
Wer nicht in der mondänen Welt Thomas Manns lebt, greift heutzutage häufig auf Convenience-Produkte zurück – etwa auf der rastlosen Suche nach einem Pandemie-Snack. „Baby, es gibt Reis“, trällerte Helge Schneider schon 1993. „Lecker, lecker Reis aus dem Kochbeutel“. Lecker allein genügt heute aber nicht mehr. „Vitamine B12 und B6 unterstützen das Immunsystem“, versprach die Verpackung der Immunsuppe groß, und nahm dem amorphen Appetit so das schlechte Gewissen. Es handle sich um eine „rechtlich zugelassene und wissenschaftlich belegte Aussage“, behauptet Nestlé auf Anfrage noch immer.
Wie Gesundheitsversprechen funktionieren
Stephanie Wetzel von der Verbraucherzentrale sieht das anders. Die korrekte Aussage habe man nämlich erst im Kleingedruckten der Suppenverpackung lesen können: Das Produkt „… trägt zu einer normalen Funktion des Immunsystems bei.“ Nur diese Aussage sei wissenschaftlich belegt und rechtlich zugelassen, erklärt sie. „Gesundheitsversprechen sind in der Health Claim-Verordnung europaweit geregelt.“
Aber eigentlich reiche auch diese Verordnung nicht aus. Denn wenn Maggi einer Tütensuppe zum Beispiel Vitamine zusetze, dann dürfe das Unternehmen mit der Wirkung der Vitamine werben – zumindest, solange es sich an die vorgeschriebenen Formulierungen hält. „Die Verbraucher lesen aber im schlimmsten Fall darüber hinweg und übertragen die förderliche Wirkung der zugesetzten Inhaltsstoffe auf das ganze Produkt.“ Selbst für einen Schokoriegel könnte man also mit dem Claim werben: „Trägt zu einer normalen Funktion des Immunsystems bei“. Natürlich nur, wenn man vorher die Vitamine B12 und B6 hinzugefügt hat.
Potenzierung der Wirkung
Potenzierung, so nennt sich in der Homöopathie das Verfahren, durch das ein Mittel besser wirken soll, wenn der Wirkstoff mit Wasser, Alkohol oder Milchzucker stark verdünnt wurde. Von Schokolade und Suppe ist nicht die Rede, hier eröffnen sich also ganz neue Möglichkeiten. In der Wirtschaftswissenschaft spricht man, vergleichbar mit der Potenzierung, vom knappen Gut. Es ist besonders profitabel. Und nun? Ein großer Lebensmittelkonzern hat die Pandemie genutzt, um irreführende Werbung für seine Produkte zu machen?
„Viele Produkte gelten als gesund, ohne dass wissenschaftliche Erkenntnisse dahinterstehen“, erklärt Tina Bartelmeß. Sie ist Juniorprofessorin für Ernährungssoziologie an der Uni Bayreuth. „Da heißt es dann: Bei der Oma gab es schon Suppe, als ich krank war. Sowas macht sich die Wirtschaft natürlich zunutze. Da braucht es kaum noch zusätzliches Marketing.“
Vielen Angehörigen sozial und ökonomisch unterer Schichten fehle es außerdem an Ernährungskompetenz, meint sie. „Aber von einer bestimmten Stufe an kritischem Verbraucherbewusstsein sollte man schon ausgehen.“ Dass viele Kundinnen und Kunden wirklich an die heilsame Wirkung von Tütensuppen glauben, hält Bartelmeß für unwahrscheinlich.
Niemand muss an Werbung glauben
Das Komplizierte an Werbung ist allerdings: Niemand muss wirklich an sie glauben, damit sie wirkt. Werbung „setzt voraus, dass das vorausgesetzt wird“, schreibt der Systemtheoretiker Niklas Luhmann in „Die Realität der Massenmedien“. Das heißt: Sie geht davon aus, dass ihr nicht geglaubt wird und behauptet trotzdem munter weiter. Also ungefähr so wie deutsche Gesundheitspolitikerinnen mit ihren garantiert wasserlöslichen Claims: „Wir haben die Variante unter Kontrolle“; oder „müssen lernen, mit dem Virus zu leben“ oder „Der Sommer wird gut“.
Vielleicht ist das alles auch gar nicht so tragisch. Die Pandemiesuppe ist versalzen, gewiss. Aber nicht nur Unternehmen füllen die Lücke, die der Staat lässt. Wenn jeder irgendwann in Quarantäne war, hat (fast) jeder auch schon mal für jemand anderen eingekauft. „Sag Bescheid, falls du was brauchst.“ Eingeschlafene Bekanntschaften erwachen, zuverlässiger noch, als wenn es um eine Mietwohnung in einer westdeutschen Großstadt geht.
Auch das Einkaufen sei indes nicht ohne Tücken, meint die Soziologin Bartelmeß. Wer mit Corona zu Hause liege und andere für sich Besorgungen machen lasse, habe „gewisse Erwartungen an das, was eingekauft werden soll, meist ohne die konkret zu artikulieren“. Das kann schiefgehen. Dann landet der falsche Apfel in der Tüte, der zu teure oder zu billige Käse, und, mal ehrlich, brauchst du wirklich so viel Schokolade? „Man sollte diese Erwartungen genauer kommunizieren“, rät Bartelmeß. Frauen täten das ohnehin oft in ihrem Alltag. „Viele Männer aber haben wahrscheinlich noch nie mit ihren Kumpels darüber gesprochen, was ihnen beim Lebensmitteleinkauf wichtig ist. Und nun zum ersten Mal in ihrem Leben für einen Freund oder eine Freundin eingekauft.“
Ein Akt der Liebe
Füreinander einzukaufen sei gar „ein Akt der Liebe“, schreibt der Anthropologe Daniel Miller in „A Theory of Shopping“. Bei dieser Liebe handle es sich keine „romantische Vision eines idealisierten Augenblicks“, sondern um die alltägliche Sorge füreinander. Die sei schwammig und voller Widersprüche. „Kümmern, Betroffensein, Verpflichtung, Verantwortung und Gewohnheit spielen eine Rolle in diesen Beziehungen, ebenso wie Missgunst, Frust und sogar Hass.“
In einer derart blubbernden Gemengelage konnte eine Immunsuppe als kleiner Shopping-Scherz nicht schaden. Zwar schadet ironisches Einkaufen großen Unternehmen genauso wenig wie der hämisch-distanzierte Konsum von Reality-Shows den Fernsehsendern. Konzerne nutzen sogar gezielt die Aufmerksamkeit, die ihnen Marketing-Gags wie die „Fischstäbchen-Pizza“ von Dr. Oetker oder die am 1. April 2014 angekündigte „Ritter Sport Mett“-Schokolade bescheren.
Im Irrgarten der Zeichen
Aber wenn es schon keinen Ausweg aus dem Irrgarten der Zeichen gibt, dann sollte man ihn wenigstens nutzen. Das Suppenpulver der „Immunsuppe“ steht dafür nicht mehr zur Verfügung, seitdem sie aus den Supermarktregalen verbannt wurde. Dafür ist ihr Name nun frei. Mit einem guten Deal bekäme man sicher auch die Rechte darauf. Ein Serviervorschlag zur Güte: Wenn die Impfkampagne stockt, die Impfpflicht in den Sternen steht – warum brandet man die gute, alte Spritze nicht neu? Eine „Immunsuppe“ gegen Corona: Wer würde sich die nicht beherzt in den Arm jagen?