Maestro aller Klassen
Sein zweites Leben begann am 24. November 1996: Während er an der Deutschen Oper Berlin eine Aufführung von Modest Mussorgskys “Boris Godunow” dirigierte, erlitt Michail Jurowski einen Herzinfarkt. Zum Glück war die Theaterärztin sofort zur Stelle, im Krankenhaus erholte sich der 61-Jährige bald – und stand ein halbes Jahr später wieder vor einem Orchester.
Michail Jurowski war ein Kapellmeister im besten Wortsinn, ein uneitler Vermittler zwischen Musiker:innen und Publikum, dem stets die Musik in den Vordergrund stellte, die Arbeit mit der Partitur, nach bestem Wissen und Gewissen. „Ich bin nicht stolz“, sagte er seinem Biografen Michael Ernst, anlässlich seines 70. Geburtstags, “ich bin glücklich.“
In der Sowjetunion litt er unter dem Antisemitismus
Dabei hat er es wahrlich nicht leicht gehabt in seinem Künstlerleben. Jurowskis Großmutter kam bei einem Pogrom ums Leben, sein Vater wurde als Kleinkind so schwer verletzt, dass er ein lebenslanges Rückenleiden davon trug. Und auch der 1945 geborene Michail selber musste immer wieder bittere Erfahrungen mit dem Antisemitismus in der Sowjetunion machen. Zum Beispiel, dass man als Jude stets „zehn Kilometer weiter hinten antreten musste“. Als er 1971 bei einem Dirigentenwettbewerb antrat, wurde ihm in der zweiten Runde nahegelegt, sich krank zu melden.
In Moskau konnte er nur am Stanislawski-Theater arbeiten, das Bolschoi blieb ihm versperrt. Als die Komische Oper ihn 1978 engagieren wollte, wurde von offizieller Stelle verfügt: aber nur für Ballettaufführungen. Kein Wunder, dass er 1990 die Chance ergriff, in den Westen zu gehen, als bereits 45-Jähriger, mit seiner ganzen Familie, um sein eine zweite Existenz aufzubauen. Was ihm dank eiserner Disziplin und unermüdlichem Arbeitseifer dann auch gelang.
In Berlin war er viel gefragt in den 1990ern
Jurowski war gefragt in Berlin, vor allem im russischen Repertoire, wurde regelmäßiger Gastdirigent beim Rundfunk-Sinfonieorchester (RSB) wie an der Deutschen Oper, dirigierte natürlich weiterhin auch an der Komischen Oper. Chefpositionen hatte er bei der Nordwestdeutschen Philharmonie Herford inne, am Volkstheater Rostock sowie an der Leipziger Oper und beim WDR-Rundfunkorchester Köln.
In seiner Wahlheimat Berlin ließ er sich mit seiner Frau und den drei Kindern in Berlin-Spandau nieder. Wie inspirierend die Atmosphäre in dem Musikerhaushalt war, zeigt sich auch an daran, dass die Tochter wie auch die beiden Söhne Profikarrieren in der Klassik gemacht haben, am erfolgreichsten Vladimir, der seit 2017 Chef des RSB ist.
Michiel Jurowski sah sich als Diener der Komponisten: „Wir spielen keine Musik, wir sprechen sie“, erklärte er: Das Dirigieren empfand er als „Kunst des Übertragens“: die abstrakten Noten werden durch die emotionale Identifikation einerseits und durch schlagtechnische Fähigkeiten andererseits als wortlose Sprache vermittelbar. Im Alter von 76 Jahren ist Michail Jurowski jetzt gestorben.