„Uns ist es wichtig, Comics als queeres Medium zu denken“
Comics hat es bisher auf der documenta kaum gegeben. In diesem Jahr sind bei der vom 18. Juni bis 25. September laufenden documenta fifteen mit dem deutschen Künstler Nino Bulling und dem Australier Safdar Ahmed gleich zwei Gäste vertreten, die für diese Kunstform stehen. Zudem wurde auch die russische Künstlerin Victoria Lomasko, die seit Jahren die Folgen des Putin-Regimes in grafischen Reportagen dokumentiert und kürzlich in Folge des Überfalls auf die Ukraine ihr Land verlassen hat, zur Teilnahme an der documenta eingeladen.
Lars von Törne hat Nino Bulling dazu befragt, was es für ihn und die Kunstform Comic bedeutet, an der wohl weltweit bedeutendsten Reihe von Ausstellungen für zeitgenössische Kunst teilzunehmen. Nino Bullings Arbeiten erschienen bis 2019 unter dem Namen Paula Bulling und umfassen unter anderem die dokumentarischen Comics „Im Land der Frühaufsteher“ zum Umgang mit Geflüchteten in Sachsen-Anhalt, das grafische Gedicht „Lichtpause“ und, zusammen mit Anne König, das Buch „Bruchlinien“ zum NSU-Terror.
Auf welche Weise werden Sie sich an der documenta fifteen beteiligen?
Mein Beitrag besteht aus drei Teilen: Das sind einmal ein Buch und Ausstellung, die aus dem Buch entstanden ist. Der zweite Teil ist eine Anthologie queerer und trans* Comiczeicher*innen, die ich zusammen mit Nour Hifaoui und Joseph Kai vom libanesischen Kollektiv Samandal Comics editiere. Wir treffen uns mit allen Beitragenden im Juli für einen zweiwöchigen Workshop, in Kooperation mit dem Kunsthaus Göttingen und dem Steidel Verlag. Dafür kommen folgende Künstler*innen vom 11. bis 23. Juli nach Göttingen und Kassel: Joseph Kai, Nour Hifaoui, Bilge Emir, Bea Kittelmann, Natyada Tawonsri, Michel Esselbrügge, Jo Rüßmann, Mloukhiyyé Al-Fil, Romy Matar, Nygel Panasco, Aki Hassan und Barracka Rima. Und drittens gründe ich mit einer größeren Gruppe Kolleg*innen eine Gewerkschaft für Comiczeichnende. Dazu wird es im September eine öffentliche Aktion geben.
Sie arbeiten ja mit Ihren Bilderzählungen oft im Grenzbereich zwischen Comics und bildender Kunst. Was bedeutet es für Sie, Ihr Werk jetzt im Kontext der documenta zeigen zu können?
Die documenta ist für mich der größte Rahmen, in dem ich bisher gearbeitet habe. Das bedeutet erstmal mehr Ressourcen und Zeit, die ich in die Arbeit stecken konnte. Ich habe sehr genau darüber nachgedacht, wie ich diese Möglichkeit für mich und die Menschen, mit denen ich mich durch meine Arbeit verbunden fühle, nutzen kann.
Ein Teil Ihres Beitrages ist das Buch „Firebugs/abfackeln“, das gerade bei Edition Moderne und Colorama erschienen ist. Wie wird das auf der Documenta präsentiert, und woraus besteht Ihr Beitrag noch?
An „Firebugs/abfackeln“ habe ich etwa zwei Jahre gearbeitet. Auf der documenta gibt es große Tuschezeichnungen auf Seide zu sehen, die den Kosmos des Buches aufgreifen und erweitern. Das Buch wird es auch in der Ausstellung zu lesen geben. Die Zeichnungen im Raum beziehen sich eher lose auf die Geschichte, die ich im Buch erzähle und übersetzen die Themen durch die Form in den Raum.
In dem Buch geht es um globale Vorgänge wie die Klimakrise und ökologische Bedrohungen, ebenso um persönliche Themen wie Identität, Liebe und die Frage, was den Menschen ausmacht. Im Vergleich zu Ihren früheren, auf Recherchen basierenden Büchern scheint es ein viel persönlicheres Werk zu sein. Wieweit stimmt der Eindruck?
Es ist richtig, dass das Buch ein persönliches ist. Wobei für mich die Grenze zwischen politischen und persönlichen Themen unscharf ist. Die Themen meiner früheren Bücher haben mich auch ganz unmittelbar, auch körperlich, betroffen. Jetzt schaue ich mir den Körper als Ort an, der von Affekten durchquert und gestaltet wird. Mich interessiert, wie die Formbarkeit unserer Körper im Verhältnis zu unserem Umgang mit „Natur“’ steht, und die gesellschaftlichen Widersprüche, die sich dabei auftun, wenn es um trans Identitäten geht.
Wieweit ist das Buch speziell im Hinblick auf die Documenta geschaffen worden, wieweit werden andere Beiträge von Ihnen auf die Documenta zugeschnitten oder extra dafür geschaffen?
An dem Buch saß ich schon seit etwa einem Jahr, als die Einladung zur documenta eintraf. In Abstimmung mit der kuratorischen Leitung habe ich dann entschieden, die Arbeit auch dort zu zeigen. Die Ausstellung ist speziell für den Raum entwickelt, den ich mir ausgesucht habe – die Hafenstraße 76, ein Industriegelände im Osten Kassels. Daran hat mich das serielle interessiert, den dieser Raum, der für Lageristik genutzt wurde, mitbringt. Auch die beiden anderen Projekte – die Anthologie und die Gewerkschaft – waren schon in Planung. Wir haben dann jeweils überlegt, wie wir die Plattform documenta für uns am besten nutzen können.
Was bedeutet es für die Kunstform Comic, die ja trotz der gewachsenen öffentlichen Anerkennung immer noch ein gewisses Schattendasein führt, dass sie jetzt auf diese Weise auf der documenta gewürdigt wird?
Comics waren immer wieder an der documenta präsent, zum Beispiel wurde bei der documenta 13 Charlotte Salomons „Leben? Oder Theater?“ gezeigt. Dass jetzt mit Safdar Ahmed und mir gleich zwei zeitgenössische Künstler*innen eingeladen sind, freut mich. Wir stehen für eine Generation an Zeichner*innen, die Solidarität und Zusammenarbeit großschreiben. Ich finde es interessant, dass Safdar und ich uns beide intensiv mit geopolitischen Themen, aber auch mit unserem eigenen Körper befassen – er zum Beispiel in seiner Erzählung „My Struggle with Crohn’s disease“. Für den Workshop, den ich mit Samandal Comics organisiere, kommen zwölf Zeichner*innen nach Kassel, die neue, formal und inhaltlich aufregende Arbeiten machen. Uns ist es wichtig, das Medium als queeres Medium zu denken, und das bedeutet nicht nur, queere Geschichten zu erzählen, sondern das Wie und mit Wem der Arbeit und ihrer Verwertungskreisläufe mitzudenken.