Stiller König, großer Herr

Fast alle kennen ihn als „Vize-Questore“ Patta. Wie Michael Degen in den Fernsehversionen der Venedig-Krimis von Donna Leon den Chef des Commissario Brunetti mit einer Mischung aus soignierter Eitelkeit, komödiantischem Opportunismus und selbstironischer Durchtriebenheit auf die blanken Marmorböden der venezianischen Salons legt, das hat eine schier alterslose Frische. Degen, der an diesem Montag seinen 90. Geburtstag feiert, spielt dabei auch mit den Klischees des theatralischen Metiers. Immer mit einem klugen Augenzwinkern.

Wer es nicht weiß und den noch im Alter so attraktiven grauhaarigen Akteur erblickt, kommt wohl kaum darauf, dass hinter seiner Manier statt schierer Schläue eine ungeheure, ungeheuer lange Lebenserfahrung steckt. Auch Michael Degen hätte am vergangenen Donnerstag, dem Gedenktag für die Opfer des Holocaust, im Deutschen Bundestag sprechen können. Als einer der letzten Überlebenden. Denn Degen, dessen Vater1940 an den Folgen der Haft und Folter im KZ Sachsenhausen gestorben ist, musste 1942 die jüdische Schule in Berlin verlassen und mit seiner Mutter unter falschen Namen mehrfach untertauchen. Er erlebte das Kriegsende im Versteck einer Laubenkolonie in Berlin-Kaulsdorf.

Wunderkind am Deutschen Theater

Der sehr junge Michael Degen muss dann im zerbombten Berlin eine Art Wunderkind gewesen sein. Mit gerade 15 Jahren war er bereits Eleve am Deutschen Theater. Mit 17 folgte er seinem älteren, schon in der NS-Zeit geflohenen Bruder nach Palästina und nahm am israelischen Unabhängigkeitskrieg teil. Ohne zu schießen, wie er betont. Doch ist Degen mit zwei Pässen Israeli und Deutscher. Ein Zeitzeuge und Brückenbauer. Er spielte bald auch Theater in Tel Aviv, indes zog es ihn kulturell wieder zurück nach Europa. In Brechts Berliner Ensemble hat er dann mitgewirkt und erneut am Deutschen Theater. Worauf eine Karriere begann, die Michael Degen in Klassikern und Zeitstücken an viele große Bühnen zwischen Berlin und Wien, Hamburg, München und Salzburg geführt hat. Zu so unterschiedlichen Regisseuren wie Rudolf Noelte, Peter Zadek, George Tabori oder Otto Schenk. Und dazwischen häufig zum Film und Fernsehen.

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In einer schlichten, schwarzweißen Fernsehtheateraufzeichnung ist er 1970 besonders hervorgetreten. Im ersten Stück der Theatergeschichte, das in Auschwitz spielte. Es war George Taboris Drama „Die Kannibalen“, das die wagemutige Berliner Verlegerin Maria Sommer (sie wird im Mai 100 Jahre alt) zuvor in New York gesehen hatte und zur deutschen Erstaufführung Ende 1969 in die Werkstatt des Schiller-Theaters geholt hatte. Tabori war damals schon dabei, aber es inszenierte sein amerikanischer Schwiegersohn Martin Fried. Und Michael Degen spielte als Hommage und doppelter Schatten des eigenen Vaters und des in Auschwitz ermordeten Vaters von Tabori einen der KZ-Häftlinge, für die der Hunger zum mörderischen Koch und zum letzten Atem des Widerstands wird.

Hommage an den ermordeten Vater

Fünfzehn Jahre später hat Michael Degen den Opfern nochmal ein Gesicht gegeben, als er an der West-Berliner Freien Volksbühne 1984 in Joshua Sobols „Ghetto“ in der (ebenso) legendären Inszenierung von Peter Zadek einen der drangsalierten polnischen Juden gab. Wobei „geben“ als Darstellung kein kostenloses Nachstellen meint.

Michael Degen, der heute bei Hamburg lebt, ist in Persona ein gebildeter, trotz aller Erfolge und der gelegentlichen Verführung zur Manier des Virtuosen, nie eingebildeter Mann.

Auch einer der gut schreibt. Man lese seine Autobiografien „Nicht alle waren Mörder“ und „Mein heiliges Land“. Oder das anrührende Buch über seinen genialen, vom Alkohol heimgesuchten Kollegen Oskar Werner, betitelt „Der traurige Prinz“. Degen selbst ist dagegen: ein stiller König.