„Denkmalschutz ist eine Zukunftsdisziplin“, sagt Christoph Rauhut
Christoph Rauhut leitet seit Oktober 2018 das Landesdenkmalamt Berlin, zuvor arbeitete er beim Nationalkomitee für Denkmalschutz. Er stammt aus Essen, wuchs im Schatten von Welterbestätten wie der Zeche Zollverein auf, studierte Architektur und Denkmalschutz in Aachen und Zürich. Seine private Leidenschaft sind expressionistische Bauten. Dazu publizierte er die Buchreihe Fragments of Metropolis mit bisher drei Bänden (Berlin, Ruhrgebiet, Osteuropa).
Das Gespräch findet in Rauhuts Büro im Alten Stadthaus in der Klosterstraße statt, am großen runden Tisch aus dem Bankettsaal des ehemaligen Staatsratsgebäudes. Rauhut übernahm ihn von seinem Vorgänger Jörg Haspel. Auf einem Tresen liegt Fassadenschmuck von Schinkels Bauakademie. Das 19. Jahrhundert und die reduzierte DDR-Moderne – Rauhut (Foto: Anne Herdin) schätzt die Mischung.
Herr Rauhut, beim Denkmalschutz denken die meisten eher an die Mittelaltergrabungen am Molkenmarkt als an Bauten, die keine 50 Jahre alt sind. Wie sehen Sie Ihre Aufgabe als Landeskonservator dieser gerade erst 100-jährigen Großstadt?
Berlin ist vor allem eine Stadt des 19. und 20. Jahrhunderts. Deshalb gehen wir mit den Zeitschichten unterschiedlich um. Das Mittelalter graben wir eher aus, aus der frühen Neuzeit existieren nur wenige, umso wertvollere Zeugnisse. Ab dem 19. Jahrhundert ist dann eine enorme Dynamik zu verzeichnen. Mit Schinkel entwickelte sich hier eine ganze Schule, zur Jahrhundertwende wurde Berlin als erste Großstadt umfassend elektrifiziert, was zu einer eigenen Architektur führte. Hier spiegeln sich viele historische Brüche, sei es an einem Sportareal wie dem Olympia- Gelände als Zeugnis des NS-Machtstrebens, sei es an den Repräsentationsbauten der DDR, die die neue Hauptstadt baute. Die Frontstadt im Westen verstand sich als Gegenmodell dazu: Sie demonstrierte Offenheit mit Kongressbauten, dem Flughafen Tegel oder dem Hansaviertel. Die hohe Dichte der Zeitschichten ist ein Geschenk, aber auch eine Herausforderung.
Sie sagen auch, Denkmalschutz ist eine Zukunftsdisziplin.
Denkmale sind Zeugnisse der Vergangenheit, die uns heute Identität stiften und Bedeutungsspeicher für morgen sind. Als Denkmalschützer setzen wir Ankerpunkte für das kollektive Gedächtnis der Zukunft. Ich kann hier aus dem Fenster das Nikolaiviertel sehen; die „Altstadtplatten“ haben wir unter Schutz gestellt. Irgendwann muss das Viertel saniert werden, aber wegen der Bedeutung für die DDR-Geschichte und für die Wiederentdeckung des historisierenden Städtebaus ist es wichtig, dass es seine Authentizität dann nicht verliert. Aus den Augen, aus dem Sinn, das darf nicht passieren.
Apropos Ost-West: In Vorbereitung des Welterbe-Antrags für das Nachkriegsdoppel Karl-Marx-Allee und Hansaviertel hat das Landesdenkmalamt kürzlich eine Bürgerwerkstatt veranstaltet.
Wir begleiten den Antrag mit diversen Formaten. Auch der Unesco ist es wichtig, dass ein Welterbe vor Ort gelebt wird, gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern. Die besondere Herausforderung in Berlin ist ja, dass es sich oft um bewohnte Gebäude handelt, wie bei den Siedlungen der Moderne. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben natürlich viele Fragen: Wird ein Wohngebiet attraktiver durch das Erbesiegel? Führt das wiederum zu Verdrängungseffekten? Solche Aspekte müssen wir mitthematisieren.
Auf der Berliner Denkmalliste stehen rund 8000 Bau-, Garten- und Bodendenkmale. Wie behalten Sie da den Überblick?
Wir haben gut funktionierende Datenbanken. Jedes Denkmal hat eine eindeutige Identifizierung und einen Datensatz, in dem die Kernmerkmale dargestellt sind. Deshalb verstehen wir uns auch als moderne Wissensinstitution. Nicht nur Eigentümer fragen an, sondern auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das beste Instrument, um einen Überblick zu bekommen, ist die Denkmalkarte auf unserer Webseite. Da sieht man die historischen Cluster in Mitte, aber auch die Dorfanger oder die Moderne-Siedlungen am damaligen Stadtrand.
Wann sagen Sie Nein zu einem Antrag?
Wir bekommen sehr viele Aufforderungen, etwas unter Schutz zu stellen, und sagen häufiger Nein. Das kommt nicht immer gut an. Aber wenn jemand nicht will, dass das Nachbargrundstück bebaut wird, ist das kein Grund für eine Denkmaleintragung. Wir erfassen auch selber, topografisch, indem wir gezielt Ortsteile durchgehen, und thematisch, etwa zum Thema Wohnungsbau der 1980er Jahre oder zum Erbe der DDR.
Und wie alt muss etwas sein, damit es denkmalwert ist?
Die Zeitspanne hat sich verkürzt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es 50 Jahre, heutzutage will man den Abstand einer Generation, also 30 Jahre. Wir erleben gerade, wie die DDR sich historisiert. Auch die Geschwindigkeit, mit der die Stadt sich verändert, spielt eine Rolle. Nach drei Jahrzehnten stehen oft große Sanierungen an, das Zeitfenster für die Frage, ob etwas unverändert erhalten bleiben sollte, dürfen wir nicht verpassen. Ich spreche gern von der wunderbaren Ungeklärtheit der Stadt. Berlin hat keinen historischen Kern, in dem nur mittelalterliche Häuser stehen, auch keine einheitliche Stadterweiterung mit barocker und später klassizistischer Architektur. Überall finden sich spannende Überlagerungen von Historie und Moderne, es wäre falsch, nur eine Zeitschicht zu schützen.
Der Abriss des Palasts der Republik zugunsten des Schloss-Wiederaufbaus ist also ein Sündenfall?
Historische Gebäude abzureißen, erfüllt Denkmalpfleger immer mit Wehmut. Inzwischen gilt aber mehr denn je, dass ein Abriss schon aus ökologischen Gründen nur die allerletzte Option ist. An erster Stelle sollte stehen, wie wir etwas nachnutzen können. Ein Umdenken der Baubranche und der Stadtentwicklung ist da zwingend notwendig. Hier hoffe ich auf die/den neuen Senatsbaudirektor:in.
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Denkmalschutz ist Klimaschutz, heißt es.
Nichts schont Ressourcen mehr als der Erhalt des Bestands. Wenn etwas nicht mehr für seinen ursprünglichen Zweck gebraucht wird wie etwa alte Industrieareale, sollten wir eine neue Nutzung aus den Gebäuden heraus entwickeln. Ich stamme aus dem Ruhrgebiet, mir ist das vertraut. Auch Berlin ist eine Industriemetropole, deshalb sprechen wir immer wieder mit Eigentümern von Industrieimmobilien über die Umnutzung von Produktionshallen in Büro- oder Gewerbeeinheiten. Zu einer lebendigen Stadt gehört selbstverständlich die Umnutzung. Gerade gibt es zwei große Entwicklungsprojekte, die Siemensstadt und das Behrens-Ufer in Oberschöneweide, ein Areal, auf dem einst Autos gefertigt und später Fernsehröhren produziert wurden.
Auch zum Mäusebunker in Lichterfelde, den ehemaligen Tierlaboratorien der Charité, werden Workshops veranstaltet. Wieso steht der Brutalismus-Bau nicht unter Schutz, anders als seit Januar das Hygieneinstitut gleich gegenüber?
Der Mäusebunker ist ein Spezialfall. Er stand auf unserer To-do-Liste, manchmal kommen wir aus Kapazitätsgründen aber zu spät. Der Charité wurde eine Abrissgenehmigung erteilt. Dennoch suchen wir jetzt im Modellverfahren eine gemeinsame Lösung für die schwierige Umnutzung: Es fehlt ja an Licht und Luft, und die Techniketagen sind nur zwei Meter hoch. Die Charité reißt nicht ab, wir setzen nicht unter Denkmalschutz – das verschafft allen Spielraum. Der Flughafen Tegel wurde unter Schutz gestellt, als noch nicht alle Aspekte der Nachnutzung gelöst waren. Es kam aber bald zum Konsens zwischen Stadtentwicklung, Bauverwaltung, Denkmalamt, Beuth-Hochschule und Tegel Projekt GmbH. Eine Hochschule, die in einen Flughafen einzieht, ist ein sehr großes Konversionsprojekt.
Und wenn keine Einigung möglich ist? Müssen Sie sich dann an Klaus Lederer wenden, an die Kulturverwaltung als oberste Denkmalschutzbehörde?
Das geschieht zwei, drei Mal im Jahr, bei Streit mit dem Bezirk , wenn zum Beispiel nachverdichtet werden soll und wir die Größe des neuen Baukörpers beanstanden. Solche Entscheidungen stehen auf Bezirksseite oft unter hohem politischem Druck, als Fachbehörde sind wir unabhängiger. Ich halte das für ein gutes System, weil es den Ausgleich verschiedener öffentlicher Interessen sicherstellt, zumal in einer Stadt, in der sich die Beteiligten gern mal gegenseitig blockieren. Klaus Lederer trat mit dem Anspruch an, den Denkmalschutz nicht politisch zu instrumentalisieren, daran hat er sich gehalten. Das war früher manchmal anders.
Zum Beispiel?
Beim ICC wurde der Denkmalschutz immer wieder zurückgestellt. Erst 2019 konnten wir die Ikone der Hightech-Architektur auf die Liste setzen. Inzwischen ist klar, dass das Gebäude auch mit Denkmalschutz für mögliche Betreiber attraktiv ist. Es fehlt in Berlin an Veranstaltungsorten, das private Kongresszentrum Estrel macht ja vor, wie sehr sich das lohnen kann. Dennoch habe ich den Eindruck, dass es in der bunten Berliner Politik Einzelne gibt, die das Konzeptvergabeverfahren nicht angehen wollen. Ein echter Start steht bis heute aus.
Und wie steht es um den Teufelsberg? Mal liest man, das Alliiertenmuseum könnte einziehen, mal heißt es, der Eigentümer plane Büros, Parkdecks und Gastronomie.
Der Teufelsberg ist ein emblematischer Ort für die Berliner, schon wegen seiner Präsenz in der Stadtsilhouette. Mit den Fundamenten der NS-Wehrfakultät, dem Trümmerberg als einer von Menschen geschaffenen Landschaft und der US-Abhörstation ist er dreifach von Bedeutung. Die Eigentümer sind mit ihren Konzepten vor Jahren gescheitert, mit der Folge einer hohen finanziellen Grundlast. Es ist kompliziert: Die Eigentümer haben unterschiedliche Anteile, sie müssen sich einigen, das ist bisher nicht gelungen. Immerhin verschafft der Denkmalschutz dem Teufelsberg zusätzliche Aufmerksamkeit.
Der Landeskonservator kann am Ende nur Debatten anregen?
Das sollten Sie nicht unterschätzen. Meine Aufgabe ist es, Themen in die Öffentlichkeit zu bringen und die Dringlichkeit bestimmter Fälle ins politische Bewusstsein zu rücken. Vor allem gilt es, Verständnis dafür zu wecken, dass mit dem Denkmalstatus mehr Aufwand und manchmal auch mehr Kosten verbunden sind – wobei der Mehraufwand durch Steuerabschreibungen für Private abgefedert wird. Und wir haben ein kleines Budget für Förderanträge, jährlich zweieinhalb Millionen Euro. Bei großen Maßnahmen unterstützen das Land und der Bund, zum Beispiel bei der Sanierung des Strandbads Müggelsee oder des Kino International.
Passiert es trotzdem, dass Sie dem Verfall des Teufelsbergs tatenlos zusehen müssen?
Mit dem Bezirk sind Maßnahmen zur Sicherung wie zur Verkehrssicherheit vereinbart. Aber viel Substanz ist längst weg, es handelt sich ja eher um einen Rohbau.
Ab wann ist ein Gebäude eine Ruine?
Da ich aus dem Rheinland komme, denke ich eher an Burgen. In Berlin gibt es Kriegsruinen, die mit Bedacht als solche konserviert sind. Die Gedächtniskirche oder auch das Portal des Anhalter Bahnhofs haben als Ruine ihren historischen Wert. Das kann man vom Teufelsberg nicht sagen. Er ist keine Ruine: Die Gebäude sind noch begehbar, und auch wenn sie wieder genutzt werden, verliert der Berg nicht an Bedeutung für das Stadtbild.
Und Ihr größtes Sorgenkind aktuell?
Ich habe keine Sorgenkinder, ich bin Optimist. Im Großen und Ganzen sind die Berlinerinnen und Berliner beim Thema Denkmalschutz aufgeschlossen. Sie begeistern sich für ihre Stadt und verstehen, dass manche Einschränkungen im gemeinsamen, öffentlichen Interesse sind. Als Landeskonservator komme ich vor allem dazu, wenn etwas anbrennt, ich verstehe mich als Vermittler und Moderator. Da gibt es jede Woche neue Themen und solche, die immer wieder auf den Tisch kommen wie der Flughafen Tempelhof, dessen Nutzung schwieriger ist als lange gedacht. Für dieses riesige Gebäude kann es keine Klein-Klein-Lösung geben, hier ist ein Netzwerk von Impulsgebern und Experten gefragt. Das organisieren wir aktuell. Gleichzeitig treiben wir Partizipationsprojekte und die Digitalisierung unserer Wissensbestände voran. Denkmalschutz will mit Leben gefüllt sein.