Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin: Kraft und Schönheit der Tiefe
Von Wasser, Wind, Wetter erzählt die Musik, die Marc Minkowski gemeinsam mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin in der Philharmonie präsentierte: Französische Raritäten – so etwas ist eher selten zu hören in einem Weihnachtskonzert. Gewiss, die Programmpäckchen werden bekanntlich lange im Voraus geschnürt. Minkowski hat also sicherlich weder den Dauerregen herbeidirigieren noch das Sturmtief Zoltan kommentieren wollen.
Es ist aber sowohl im „Poème de l’amour et de la mer“ von Ernest Chausson als auch in der Oper „Les Boréades“ von Jean-Baptiste Rameau auch von Liebe die Rede, nicht nur vom rohen Naturelement. Und man kann etwas erfahren über Kraft und Schönheit der Tiefe, über Kontrabass und Fagott.
Letzteres ist das Lieblingsinstrument des Dirigenten. Als Fagottist hatte Minkowski einst seine Musikerkarriere gestartet. Im RSB spielt Miriam Kofler das Solofagott, mit nobler Schwärze, sinnlichem Glanz. Im deutschen Repertoire wird das Fagott oft als spottbegabter Comedian veralbert, der hohen Register wegen. In der französischen Musik dagegen spielt es, im Chor der Holzbläser, eine durchaus ernste, zuweilen blutige Rolle.
Chausson war im Kreise der Impressionisten derjenige, der am effektvollsten mit den matt-dunklen Farben der Melancholie arbeitete. In seiner von Freund Debussy beeinflussten Melodik, seiner von der Liebe zu Wagner geprägten vagierenden Harmonik lebte er diese Leidenschaft aus. Das RSB entfesselt eine opulente Klangflut. Opernbariton Florian Sempey gestaltet seine Vokalpartie dramatisch-metallisch, wie unter Druck.
Machtvoll der Posaunenchor, andächtig der Hörnerchoral
Mehr Klarheit der Artikulation wäre schön gewesen, zumal die Verse von Maurice Bouchor zu dieser tristanesken Liebesgeschichte im arg wortkargen Programmheft nicht abgedruckt sind. Schade! Text und Musik sind dicht verhäkelt. Wenn vom „unheilvollen Gebrüll der Wellen“ berichtet wird, hört man dies ebenso, wie man den Duft des Flieders und der Rosen „hören“ kann.
In der von Minkowski eigenhändig arrangierten Suite aus Tänzen der Oper „Les Boréades“ sind sogar vier Fagotte solistisch beschäftigt. Es ist dies die letzte Tragédie Lyrique, die Rameau schrieb: ein an genialen Einfällen überreiches Opus Summum, das im Stoff bereits freimaurerische Züge aufweist. Eine Königin liebt einen Diener. Ihre Liebe sprengt alle Standesgrenzen. Sie widersteht sogar dem Zorn des Windgotts Boréas.
Die Streicher des RSB spielen zwar ohne Vibrato, die Holzbläser indes auf heutigen Instrumenten. Das ist zwar alles andere als stilistisch korrekt, aber es klingt nett. Dass so eine Übersetzung funktionieren kann, weiß man eigentlich schon, seit Karajan mit etlichen Berliner Philharmonikern im Winterurlaub in Sankt Moritz die Brandenburgischen Konzerte spielte, lange vor dem Siegeszug der historisch-informierten Aufführungspraxis. Minkowski schlägt überdies moderate Tempi an. Es stürmt also nur mäßig. Trotzdem gibt es einen Zwischenapplaus nach dem wunschkonzertbekannten Contredanse. Am Ende küsst Minkowski dankbar die Partitur. Und legt dabei die Hand aufs Herz.
Das tat er auch schon bei Chausson, er tut es wieder bei Anton Bruckner, in der zweiten Konzerthälfte. Die sogenannte „Nullte“ in d-moll ist chronologisch betrachtet eigentlich Bruckners zweite Symphonie. Hier ist das RSB ganz und gar in seinem symphonischen Element. Brillant exerzieren die Musiker die mächtigen Unisonopassagen, auf den Punkt die blockhaften Kadenzen, zauberisch synchron tönen die lyrischen Holzbläserkantilenen, machtvoll der Posaunenchor, andächtig der Hörnerchoral im langsamen Satz. All diese Schönheiten stehen für sich. Minkowski stellt keinen Spannungsbogen her. Er schwelgt.
Am Ende wendet er sich, auf Französisch und auf Englisch, an das Publikum, beklagt die Weltlage und bittet: „Tun Sie trotzdem alles für den Erhalt der performing arts: Sie sind das Leben, sie sind live!“