Ukrainisches Kriegstagebuch (186): Meldungen, die Leben retten

09.01.24

„Haben Sie schon Andrij kennengelernt?“, fragte mich die Lehrerin und lächelte. „Er hat mir nämlich gerade verraten, dass er auch gerne mitmachen würde.“ Na prima! Ich war ehrlich gesagt überrascht – es war der letzte Besuch unseres kleinen Teams in dieser Schule in Troitske. Es war November 2020 und meine Kollegen und ich reisten seit drei Wochen durch den Donbass, um mit den Schüler*innen an einer Reihe von Kurzfilmen für das Projekt Misto To Go zu arbeiten. Parallel dazu führte ich mit ihnen Songwriting-Workshops durch, bei denen wir gemeinsam Lieder komponierten und aufnahmen. 

In dieser Schule, nur wenige hundert Meter von der Grenze zur sogenannten Lugansker Volksrepublik entfernt, haben wir einen Song über den Schulbus geschrieben, der täglich Kinder aus der Gegend abgeholt und dorthin gebracht hat. Außerdem habe ich Aufnahmen von Mädchen aus der dritten Klasse gemacht, die mir ein paar Zeilen aus einem Kinderlied über den Winter vorgesungen haben, das ich in unseren Bus-Song einbinden wollte.

Der wortkarge zwölfjährige Andrij tat so, als würde er uns ignorieren, warf hin und wieder einen Blick in das Klassenzimmer, wo wir arbeiteten, und knallte die Tür laut zu. „Was kann er denn machen?”, fragte ich die Lehrerin. „Singt er? Rappt er? Spielt er ein Instrument?” „Nein”, antwortete sie, „aber er kann den Klang einer fliegenden Rakete so gut imitieren, dass manche Kinder sogar Angst bekommen, wenn sie es hören.“

Heute Morgen bin ich aufgewacht und ich dachte an Andrij – wo mag er jetzt sein? Wie geht es ihm? Am Abend zuvor hatte mir mein Freund Nikolay Karabinovych von einem Video erzählt, das das ukrainische Künstlerkollektiv Open Group in diesem Jahr auf der Biennale in Venedig präsentieren wird. Das Video, gedreht 2022 in einem Übergangsheim in Lviv, wird von seinen Schöpfern als „Karaoke“ bezeichnet. Es beschreibt die Erfahrungen von Flüchtlingen aus dem Osten der Ukraine durch die Nachahmung von Kriegsgeräuschen. 

Als ich in Troitske war, gehörte der Ort zur sogenannten Grauen Zone und war regelmäßigem Beschuss ausgesetzt – ein Umstand, der heute, drei Jahre später, zur bedauerlichen Realität des gesamten Landes geworden ist. 

Da an Schlaf nicht mehr zu denken ist, greife ich nach meinem Handy und öffne Telegram, wo ich stets die aktuellen Nachrichten aus der Ukraine verfolge. Den TLK News-Kanal habe ich vor meinem ersten Besuch in der Heimatstadt nach Beginn des Großen Krieges abonniert. Meine Freunde versicherten mir, dies sei die beste Möglichkeit, um rechtzeitig über neue Raketenbeschüsse seitens russlands informiert zu werden. Der Kanal bietet zwar nicht viele Informationen, aber das rechtzeitige Lesen der hier veröffentlichten knappen Meldungen kann Leben retten.

Nach einem beinahe dreistündigen Luftangriff mit neunzig Drohnen in der Silvesternacht hätten sich die Ukrainer*innen zur Abwechslung etwas Ruhe gewünscht. Als ich jedoch feststelle, dass beim TLK News seit gestern Dutzende ungelesene Nachrichten eingegangen sind, beschleicht mich eine unangenehme Vorahnung.

5:26 Charkiw in Deckung / 6:30 Charkiw Rakete / 6:37 noch ein Ziel in Charkiw / 6:40 noch ein Ziel 

In den kommenden Stunden stöbere ich auf Facebook und Instagram durch die Beiträge meiner Charkiwer Freunde und Bekannten. Auf den Fotos erkenne ich die Gegend, die heute beschossen wurde, und versuche, die teilweise zerstörten Gebäude zu identifizieren. In der Bakulin Straße befindet sich die Wohnung meiner Großeltern väterlicherseits, wo auch meine beiden Cousins aufgewachsen sind – eine Rakete traf ein Haus fünfzig Meter weiter. 

Auf einem der Bilder sehe ich die Cafeteria Pakufuda, die in den letzten Jahren zu einem beliebten Szenentreffpunkt geworden ist, bei jedem Charkiwbesuch habe ich dort Bekannte getroffen. Durch die Explosion wurden sämtliche Fenster herausgesprengt. Das Haus einer Klassenkameradin ist zerstört worden. Mehrere meiner Freunde teilen einen Beitrag, in dem es um eine Katze geht, die nach dem Angriff vermisst wird.

Ich fühle mich überwältigt und brauche dringend eine Pause. Beim Öffnen meines Posteingangs, den ich in diesen Tagen vernachlässigt habe, sehe ich, dass sich dort seit einer Woche einige E-Mails mit Neujahrswünschen angesammelt haben.  „Frohes Neues Jahr!“ / „Danke, auch Ihnen Frohes Neues Jahr!“ / Ich zweifle daran, dass ich heute in der Lage bin, sie zu beantworten.