Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (94): Maultasche kämpft gegen Z-Panzer

8.-9.12.2022
„Wer hätte gedacht, dass sie so robust sind?“, fragt Maxim Rozenfeld, als wir uns zwischen den zerbombten Plattenbauten vom Nordsaltivka bewegen – und tatsächlich, zerstört sind meistens nur die Teile der Häuser, wo die Bomben direkt eingeschlagen sind, oft bleibt der Rest fast unbeschädigt.

Obwohl ich die Kameraeinstellungen in meinem Handy nicht berührt habe, wirken die wenigen Fotos, die ich hier mache, schwarz-weiß. Das Schwarze dominiert – so als ob ein kleines Kind auf einem Ausmalbild mit nur einem Filzstift kritzeln würde. Beim Sonnenuntergang merken wir, wie in manchen Fenstern hier und da das Licht angemacht wird. Trotz allem geht das Leben weiter.  

Auf dem Rückweg von Nordsaltivka schlägt Maxim vor, zusammen Abend zu essen. Immer mehr Cafés und Restaurants in Charkiw machen wieder auf, erzählt er. Seit August ist auch Puri Chveni zurück, der Georgier in der Myronositska Straße. Mich braucht man nicht überreden, ich bin der größte Fan der georgischen Küche und immer dafür!

Man könnte im Puri Chveni eine Film Noir-Szene drehen. Die Beleuchtung ist etwas gedämpft, wirkt aber trotzdem elegant. Neben uns sitzt ein junges Pärchen, eine Brünette und ihr Begleiter in Militäruniform, sie hält seine Hand. Auf der Papiertischdecke vor mir ist eine Szene abgebildet, in der ein Chinkali (georgische Maultasche) gegen einen Z-Panzer kämpft. 

Ich frage Maxim, wie es ihm im Saltivka geht, was er empfindet. In den letzten Monaten habe ich oft an ihn gedacht, ich fragte mich, wie er in der Stadt, die ihm so viel bedeutet und systematisch zerstört wird, klar kommt, woher er noch Kraft schöpft. „Wenn ich vor diesen Häusern stehe, wird mir bewusst, wie relativ meine eigenen Probleme sind”, antwortet er.

Nach Charkiw kommen gerade Journalisten aus der ganzen Welt und treffen sie sich mit Maxim, so versucht er, sie nach Nordsaltivka zu bringen. Und immer kommt er auf das Thema zurück, wie man die Stadt nach unserem Sieg wieder aufbaut.   

Papiertischdecke im georgischen Restaurant Puri Chveni.
Papiertischdecke im georgischen Restaurant Puri Chveni.
© Yuriy Gurzhy

Als ich das Restaurant verlasse, ist es dunkel draußen. Diese Dunkelheit ist absolut – keine leuchtenden Vitrinen oder Laternen, kein Licht in den Fenstern, keine Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos. Kurz verliere ich die Orientierung und gerate in Panik, obwohl ich eigentlich genau weiß, wo ich mich befinde.

Ich beruhige mich und warte, dass meine Augen sich an die Finsternis gewöhnen. Ich muss nach links, definitiv. Langsam glaube ich, die Gebäudekonturen zu erkennen, doch etwas nicht nicht. Und wenn ein einsames Auto vorbei fährt und für eine Sekunde die Ecke vor mir beleuchtet, kann ich sehen, was das Problem ist: Von den vertrauten Gebäuden fehlen ganze Teile. Erst jetzt erinnere ich mich an die Berichte, die es im Netz reichlich gab: Die Myronositska wurde im Frühling massiv beschossen, ganz viele Häuser wurden beschädigt. 

Es ist dunkel, kalt und rutschig – und als ob es nicht genug wäre, beginnt irgendwo eine Sirene zu heulen, ich beeile mich zum Hotel. An der Rezeption fragt mich Anna, ob alles in Ordnung ist, bietet mir eine Taschenlampe an. Mir fällt ein, dass ich aus Berlin zwei Taschenlampen mitgebracht habe und sie die ganze Zeit mit mir im Rucksack trage, habe aber nicht an sie gedacht. Wir wünschen einander eine gute Nacht.

Beim Aufwachen stelle ich fest, dass es in meinem Zimmer ganz frisch ist. Die beiden Heizkörper sind lauwarm – sehr untypisch für die Ukraine, wo man immer dazu neigte, mit der Heizung im Winter zu übertreiben. Im Frühstücksraum bin ich zuerst allein, später kommen noch vier Gäste dazu. Sie sprechen Deutsch. Das sind Journalisten, sagt Anna, die mir ein Omelette und einen doppelten Espresso bringt.

Und schon wieder spielen die Beatles im Hintergrund, diesmal nicht im Original, wie gestern im Auto nach Saltivka, sondern in einer Orchesterversion. Ich lese meine Emails. Serhij Zhadan schreibt, ich soll um 13 Uhr zum Soundcheck kommen, Maxim Rozenfeld lädt mich in das Jermilow Zentrum ein – früher eine Kunstgalerie, heute ein Media Hub, ein Zuhause für die nach Charkiw kommenden westlichen Journalisten. Als ich auf das Dessert warte, kommt eine Benachrichtigung über den Luftalarm. Alle bleiben sitzen. Das Orchester spielt „Let It Be“.

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