Gesammelte Werke von Christoph Geiser: Hingebungsvoller Wasser-Interpret

Ob er zu Besuch bei der Großmutter in deren Anrichte das richtige Besteck sucht oder einen Platz im Marzilibad am Ufer der Aare in Bern: Der Ich-Erzähler in Christoph Geisers Romanen „Grünsee“ und „Brachland“ (1978/80) macht es sich nie leicht, man könnte ihn vielmehr einen Umstandskrämer nennen. Das gilt bereits für die 1975 publizierte Erzählung „Zimmer mit Frühstück“.

Darin versichert sich der abreisende Protagonist ausführlich, seine Wohnung in ordnungsgemäßem Zustand zurückzulassen: „Ich habe, als Bewohner des Erdgeschosses laut Haftpflichtversicherungsvertrag dazu verpflichtet, die Fensterläden geschlossen; weniger wegen der Einbrecher (wer unbedingt will, kann, mit etwas Geschicklichkeit und Übung, überall eindringen – das weiß ich), als vielmehr wegen der Stürme und Gewitter; wegen Regel und Hagel: um Wasserschaden zu vermeiden.“

Dieser in seiner Komplexität kühne Satzbau – ein Markenzeichen des Autors – erinnert an die verschlungenen Wege, die sich das Wasser bahnt, ob als Element der Zerstörung oder der Selbstentäußerung, etwa beim ekstatischen Eintauchen im Freibad, in Sichtweite eines aparten Jünglings in „ägäisblauer Badehose“: Der 1949 in Basel geborene Christoph Geiser ist ein hingebungsvoller literarischer Interpret des Wassers.

„Brachland“ gemahnt an die „Buddenbrooks“

Das wird aufs Schönste auch die Werkausgabe in 13 Bänden bestätigen, die im Berliner Secession-Verlag erscheint, in der für dieses Haus charakteristisch hochwertigen Aufmachung: gedruckt auf exquisitem Papier und gebunden in hechtgraues Leinen, auf dem ein schwarzes „Dingsymbol“ für den jeweiligen Text prangt – für den an Thomas Manns „Buddenbrooks“ gemahnenden Familienroman „Brachland“ eine Teetasse.

Zu diesem heutzutage mutigen Mammutprojekt angeregt wurde Verleger Christian Ruzicska von dem Berner Literaturfestival-Impresario Hans Ruprecht. Herausgeber sind die jungen Berner Germanisten Moritz Wagner und Julian Reidy. Ihnen geht es vor allem um die Kontextualisierung des auf viele Verlage verteilten Geiserschen Œuvres. 1983 hatte er davon gesprochen, dass „Zimmer mit Frühstück“, „Grünsee“ und „Brachland“ aus einer „Zellteilung“ hervorgegangen seien: „Mein Stoff hieß nun ‚Rückkehr zur Herkunft‘.“

Zu „Grünsee“ und „Brachland“ haben die Herausgeber jedoch nicht den Vorläufer „Zimmer mit Frühstück“ hinzugesellt, was naheliegend gewesen wäre, sondern den zehnten Band der Edition vorgezogen: „Schöne Bescherung. Kein Familienroman“ aus dem Jahr 2013. Geisers selbsterklärtes, deutlich ironisches „Mutterbuch“ spielt in seiner zweiten Heimat Berlin, wohin er 1983 als DAAD-Stipendiat kam. Im Frühjahr 2025 soll die Werkausgabe mit den gesammelten Erzählungen und dem derzeit entstehenden Roman „Die Spur der Hasen“ zum Abschluss kommen.

Verstörung durch eine Typhusepidemie

In einer Broschüre gibt Christoph Geiser Auskunft über seine „schreckliche Familie“: „Mein Großvater mütterlicherseits war Schweizer Botschafter bei Hitler, […] meine Großmutter väterlicherseits war russische Jüdin und wurde in der Schweiz wahnsinnig.“ „Grünsee“ ortet die Nachwirkungen einer Verstörung durch eine Typhusepidemie, die 1963 im Ferienidyll Zermatt ausbrach und die Armee auf den Plan rief. Das recherchiert der Ich-Erzähler und verfolgt zugleich die Spur seines hochbegabten Cousins, der sich unverstanden fühlte und auf Sizilien das Leben nahm.

Das „Brachland“ dieses Familiendiptychons, das auch einzeln seine narrative Wirkmacht entfaltet, ist ein ovales, grabähnliches Beet. Der abweisende Vater des Ich-Erzählers hat es im Garten seines elsässischen Alterssitzes „aus der Grasnarbe herausgestoßen“. Vergeblich hofft der missverstandene Sohn, dieses Stück Erde mit seinem Vater urbar zu machen. Dabei betritt der Sohn, ein Journalist, an seinem 29. Geburtstag doch mit einer Plastiktüte des Berner Schokoladengeschäfts „Merkur“ sein geliebtes Marzilibad.

Diese scheinbar harmlose „Merkurtüte“ interpretieren die Herausgeber Reidy und Wagner im Nachwort sehr zu Recht als „neuerliche poetologische Volte“ des Autors: „Denn Hermes (d.i. Merkur) war schließlich als Gott der Rhetorik Namensgeber der Hermeneutik, der Lehre vom Erklären und Verstehen von Sinnzusammenhängen.“ Um diese hermeneutische Aufklärung von Tabus geht es Geiser, um die Attacke der „Familientradition des Schweigens und Aussparens“.

In der selbsttherapeutischen Überwindung dieses Zustands hat sich Christoph Geiser später mit Werken wie der Pubertätsphantasie „Kahn, Knaben, schnelle Fahrt“ oder der erratischen, dem Universalkünstler Piranesi gewidmeten Kerkerphantasmagorie „Die Baumeister“ alle thematischen Freiheiten erobert.

Seine homoerotisch instrumentalisierte sprachliche Radikalität steigerte sich dabei verlässlich. „Ohne den äußeren Druck droht allerdings die Distanz zum Erzählten verlorenzugehen“, gab das „Lexikon der Schweizer Literaturen“ einmal zu bedenken. Dies zu überprüfen lädt die Werkausgabe ein, der ein großes Publikum zu wünschen ist.

Zur Startseite