Emily Atef im Berlinale-Wettbewerb : Die Kunst, Sex zu filmen

Ein heißer Sommer in Thüringen, der erste nach dem Mauerfall. Maria (Marlene Burow) wird bald 19, sie wohnt auf dem Bauernhof bei ihrem Freund Johannes. Die DDR ist vorbei, wie geht es weiter, die Menschen sind in Aufruhr. Während Johannes seine Zukunft als Fotokünstler plant, schwänzt Maria jedoch lieber die Schule und liest Dostojewski. Bis sie Henner (Felix Kramer) begegnet, der deutlich älter ist und den Nachbarhof bewohnt. Die Leute reden nicht gut über ihn. Beginn einer Amour Fou: Emily Atef hat Daniela Kriens Roman „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ verfilmt, sie war fasziniert von Kriens archaischer, sinnlicher Sprache. „Ich las es und sah die Bilder“. Das Drehbuch schrieben die beiden zusammen. Im Zoom-Gespräch erzählt die Regisseurin von den Dreharbeiten und den Frauenfiguren in ihren Filmen.

Wie filmt man weibliches Begehren?

„Ich war den Männerblick im Kino so satt. Die jungen Frauen, ihre schönen Körper, immer Bertolucci! Das weibliche Begehren findet, wenn überhaupt, nur im Auge des Mannes statt. Nichts gegen männliches Begehren, aber wir Frauen sind doch die Hälfte der Menschheit! Es war für mich eine Lust, diese Amour fou aus der Perspektive einer jungen, bereits sexualisierten Frau zu filmen. Sie hat Freude daran, wenn sie mit ihrem Freund schläft, ihn wie einen Pfannkuchen umzudrehen, ihn zu beißen, zu riechen, zu kratzen. Es ist vielleicht nicht politically correct, dann auch noch die Liebe dieser 18-Jährigen zu einem mehr als doppelt so alten, nicht gerade sanften Mann zu zeigen. Aber die Kunst ist frei. Warum bitte soll nur ein 18-jähriger Junge heftige sexuelle Fantasien haben und sich vielleicht verirren, nicht aber ein 18-jähriges Mädchen?“

Maria und Henner

„Im Film sagt Henner: Jetzt hab ich dich gefangen und in meine Höhle geschleppt. Er ist der erste, der sie sieht und nimmt, wie sie ist. Die anderen gängeln sie höchstens, alle sind mit sich selbst beschäftigt. Auch Johannes‘ sympathische Bauersfamilie, auch Marias Mutter (Jördis Triebel), die während der Wende arbeitslos wurde. Emily Atef: „Henner berührt sie, sie weist ihn erstmal ab, aber es entsteht ein Verlangen in ihr, obwohl sie weiß, der Typ ist krass. Geh da nicht hin! Sie tut es trotzdem, sucht nach ihrer Identität. Sie zieht den Reißverschluss ihres Kleids auf, sie schaut ihn an, wie er nackt vor ihr steht. Sie entscheidet und wird immer klarer, bei dem, was sie will.“

Das Wichtigste beim Filmen von Sexszenen?

„Die DNA der Geschichte ist die physische Beziehung, die Sinnlichkeit, der Sex. Das Wichtigste dabei ist Vertrauen. Die Schauspieler, die Regisseurin, der Kameramann, der Tonmann, wir sind zu fünft in diesem Raum und müssen einander alle vertrauen können.“

Die Verantwortung für die Schauspieler

„Marlene Burow ist Jahrgang 2000, sie hatte erst einen größeren Film gedreht, ohne Liebesszenen. Es lag in meiner Verantwortung, dass sie und auch Felix Kramer nicht vom Dreh traumatisiert werden. Zum Glück gibt es inzwischen professionelle Intimacy-Koordinatorinnen. Bei Stunts oder Gewaltszenen würde kein Regisseur das Risiko eingehen, einfach nur „Macht mal“ zu sagen. Es ist traurig genug, wie viele Schauspielerinnen vor MeToo allein gelassen wurden. Trotzdem war ich zuerst skeptisch: Noch jemand am Set, der mir in meine Arbeit reinredet. Aber es ist eine Riesenhilfe, als Regisseurin gewinne ich große Freiheit, wegen der Sicherheit, dass wir alle respektvoll miteinander umgehen.“

Die Arbeit der Intimacy-Koordinatorin Sarah Lee

„Sie machte zunächst einfach Übungen. Zwei Minuten in die Augen gucken, die Frage beantworten: Was für ein Tier bist du? Und der andere? Dann redet man, über die Brust, die Geschlechtsteile, über die eigenen Grenzen. Darf ich deinen Bauch anfassen, deine Hüfte, tiefer? Die Schauspieler sagen an, was sie mit dem anderen machen. Ich nehme jetzt deine Hand und sie fasst auf meine Brust. Sie vergewissern sich gegenseitig, ist das okay? Und das? Es gibt praktische Hilfen, Prothesen für Geschlechtsteile, es ist sehr unerotisch, aber es hilft sehr, die körperliche Liebe zu filmen, ohne dass zwei Menschen Liebe auch machen. Zu Beginn eines Drehs schauen sich in die Augen und sagen: Du bist Maria, du bist Henner. Am Ende bittet Sarah die beiden dann, sich von ihren Figuren wieder zu verabschieden.“

Die Frauenfiguren in Emily Atefs Filmen

Zuletzt drehte Emily Atef „Mehr denn je“ mit Vicky Krieps als sterbenskranker Architektin und „Drei Tage in Quiberon“ mit Marie Bäumer als Romy Schneider. Ebenfalls Heldinnen, die um ihre Selbstbestimmung kämpfen und sie den Zuschreibungen der anderen abtrotzen. Dazu sagt Atef: „Es sind Frauen in einer existentiellen Krise, das war schon in ,Das Fremde in mir‘ so, mit Susanne Wolff als Mutter mit einer postnatalen Depression, einer gesellschaftlich nicht akzeptierten Krankheit: Eine Mutter, die nicht liebt, gilt als Hexe. Weil ich Optimistin bin, suche ich für alle meine Figuren ein Licht am Ende des Tunnels, und sei es noch so klein. Für Maria ist das Ende nach dieser vielleicht extremsten Liebe ihres Lebens tragisch. Aber sie weiß jetzt, wer sie ist.“

Marlene Burow als Maria in „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“.
Marlene Burow als Maria in „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“.
© Pandora Film/Row Pictures

Die Landschaft in Thüringen

Bei der Locationsuche stellte Atef fest, dass das Vogtland genauso aussieht wie die Gegend im Jura, in der sie sich als 16-Jährige aufhielt, als die Mauer fiel. Atef: „Unendlich schön, stehengebliebene Zeit – und sehr französisch. Das Vogtland ist die am dünnsten besiedelte Landschaft Deutschlands. Die Hitze, das trockene Getreide, das wehtut, die unglaublichen Sonnenuntergänge: Die Mücken, die gesamte Natur dort ist laut. Das war mir wichtig: Sie ist Zeugin dieser amour fou und warnt die beiden, wie ein griechischer Chor: Passt auf, das geht nicht gut!“

Die Proteste im Iran

„Was im Iran geschieht, macht mir große Hoffnung. Es ist weltweit die erste weibliche Revolution, und viele Männer stehen an der Seite der Frauen. 14-, 16-jährige Mädchen sagen „Nein“. Sie sagen, ich möchte mich anziehen, wie ich will, ich will schwimmen dürfen, singen dürfen, leben – und trotzdem an Gott glauben. Aber es deprimiert mich, dass im Namen eben dieses Gottes das Regime so brutal reagiert. Wir müssen trotzdem laut bleiben, dürfen nicht aufhören, hinzuschauen und darüber zu reden.“ 

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