Hansi Flick erweist sich in seiner Rolle als Nationaltrainer als echter Glücksfall
Im Anlauf auf das WM-Qualifikationsspiel gegen Rumänien ist dieser Tage noch einmal das traditionell schwierige Verhältnis des Hamburger Publikums zur deutschen Fußball-Nationalmannschaft zur Sprache gekommen. Da gab es schließlich die 0:1-Niederlage gegen die DDR bei der WM 1974. Oder 14 Jahre später das Aus im EM-Halbfinale gegen Holland, als das Volksparkstadion so orange war, dass Lothar Matthäus hinterher maulte, es wäre vielleicht hilfreich gewesen, wenn man ein Heimspiel gehabt hätte. Aber das ist lange her.
Am Freitagabend, beim ebenso mühsamen wie verdienten 2:1-Sieg gegen Rumänien, gab es keinen Grund zur Klage. Die halb gefühlte und trotzdem ganz ausverkaufte Arena ertrug die durchaus vorhandenen Schwierigkeiten im Spiel der deutschen Mannschaft mit Langmut. Das lag vor allem an einem Auftritt „voller Begeisterung und Überzeugung“, wie Bundestrainer Hansi Flick später sagte. Sein Team mühte sich erkennbar, und wenn wieder mal ein finaler Pass im Nichts versandete, war das nur ein Ansporn, es beim nächsten Mal besser zu machen.
„Das war kein perfektes Spiel“, sagte der Dortmunder Marco Reus, „aber mit Willen, Moral und Zug zum Tor sind wir einverstanden.“ Einmal verhinderte Linksverteidiger Thilo Kehrer mit einer eingesprungenen Grätsche an der Seitenlinie einen Einwurf für den Gegner. Der Ball schien einem Rumänen direkt vor die Füße zu fallen, aber da kam auch schon Leon Goretzka von hinten angeflogen und grätschte den Ball zurück in die eigene Innenverteidigung. Das Publikum jubelte. „Man hat die Verbindung gespürt“, sagte Thomas Müller.
Genau darum geht es ja: wieder eine Verbindung zu den Fans aufzubauen, nachdem die Nationalmannschaft in den vergangenen fünf Jahren einen zunächst schleichenden, dann rapiden Bedeutungsverlust erlebt hat. Zuletzt war sie fast ein bisschen egal geworden, was für ein Produkt, das von Emotionen lebt, vermutlich die schlimmste Diagnose von allen ist.
„Die letzten beiden Jahre haben mir gezeigt, wo ich hingehöre“
Die Re-Emotionalisierung der Nationalmannschaft liegt jetzt in den Händen eines Mannes, den viele früher für maximal unemotional gehalten haben. Hansi Flick war als Assistent von Joachim Löw ein fleißiger, aber vor allem stiller Zuarbeiter. Auftritte in der Öffentlichkeit schienen ihm ein Gräuel, meistens kam er so spröde daher wie ein Zwieback. In seiner neuen Rolle aber scheint sich der 56 Jahre alte Flick als echter Glücksfall zu erweisen. „Es ist ein Traum“, sagt er über die vergangenen beiden Jahre, in denen er erst die erschlafften Bayern reanimiert hat und jetzt offenbar auch die Nationalmannschaft wieder auf Trab bringt. „Die letzten beiden Jahre haben mir gezeigt, wo ich hingehöre: nämlich auf den Platz.“
Auf den ersten Blick erinnerte das Spiel am Freitagabend gegen Rumänien frappierend an das Spiel gegen Nordmazedonien Ende März. Die Deutschen waren der Favorit, die Deutschen bestimmten das Spiel, doch nach einer Unachtsamkeit in der Defensive ging der Außenseiter etwas überraschend in Führung. Die Deutschen drängten, die Deutschen kamen zu Chancen – und schließlich zum Ausgleich.
Und kurz vor Schluss fiel dann auch noch der Siegtreffer. Im März für Nordmazedonien, am Freitag für die Deutschen.
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Der eingewechselte Thomas Müller traf zehn Minuten vor dem Ende zum 2:1, nachdem Leon Goretzka einen Eckball per Kopf an den zweiten Pfosten verlängert hatte. Dieses Tor war – natürlich unbewusst und ungewollt – die größtmögliche Distanzierung von Joachim Löw, die sich nur denken lässt.
Löw nämlich hat Standardsituationen als fußballerisch minderwertig eingeschätzt und sie daher mit größtmöglicher Missachtung gestraft. Mit seinem Assistenten Flick war das immer ein großes Streitthema, obwohl es nicht zu Löws Schaden war, wenn sich sein Co-Trainer mit seinem Plädoyer für mehr Liebe zu Standards ausnahmsweise einmal durchsetzen konnte. Bei der WM 2014 waren Ecken und Freistöße auf dem Weg zum Titel ein wichtiges Stilmittel. Jetzt, als Chef vom Ganzen, hat Flick mit Mads Buttgereit sogar einen Spezialisten für Standardsituationen in seinen Stab aufgenommen. „Wir haben uns was dabei überlegt, dass wir ihn dazu geholt haben“, sagte der Bundestrainer nach dem Sieg gegen Rumänien. Müllers 2:1 war das zweite Tor in direkter Folge eines Standards, nachdem zuvor bereits Antonio Rüdiger gegen Island nach einem Freistoß erfolgreich gewesen war. „Das ist schon beeindruckend“, sagte Flick über die Fortschritte auf diesem Gebiet.
Generell sind sie bei der Nationalmannschaft peinlich darauf bedacht, das Lob an den Neuerungen nicht wie eine nachträgliche Kritik an Flicks Vorgänger Löw klingen zu lassen. „Hansi hat hier viele neue Impulse reingebracht, die uns definitiv gut tun“, hat Innenverteidiger Niklas vor dem Spiel gegen Rumänien der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt. „Das heißt nicht, dass Herr Löw das vorher verkehrt gemacht hat.“
Es herrscht ein “unheimlicher Geist”
Hansi und Herr Löw. Viel besser kann man die Unterschiede gar nicht beschreiben. Natürlich profitiert der Neue auch davon, dass er neu ist; dass die Endphase der ewigen Ära Löw offenbar auch den unmittelbar Beteiligten eher schwermütig vorgekommen ist. Selbst Oliver Bierhoff, als Manager der Nationalmannschaft qua Amt zur Schönfärberei verpflichtet, hat vor gut einem Jahr von einer dunklen Wolke gesprochen, die über dem Team hänge. Diese Wolke sei nun verschwunden, hat er in dieser Woche gesagt. Man spüre, „dass ein unheimlicher Geist herrscht. Man merkt die Überzeugung, man merkt natürlich auch die Freude.“
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Als Bierhoff gefragt wurde, wo denn konkret die Unterschiede in der Arbeit von Löw und Flick lägen, da hat er ein bisschen länger nachgedacht. Vermutlich, um nichts zu sagen, was später gegen den Alt-Bundestrainer verwendet werden könnte. „Es ist immer schwer, das so detailliert zu beschreiben“, antwortete Bierhoff schließlich. Flick versuche, „noch mehr Personen einzubinden. Er hat halt eine ganz klare Philosophie.“
Als Flick die Mannschaft von Löw übernommen hat, war sie in der WM-Qualifikation mit zwei Punkten Rückstand auf den Tabellenführer Armenien Dritter. Jetzt – vier Spiele und vier Siege später – ist sie Erster mit sechs Punkten Vorsprung auf den Tabellenzweiten Nordmazedonien. Wenn die Deutschen an diesem Montag in Skopje auf ihren ersten Verfolger treffen, können sie sich nicht nur vorzeitig für die Weltmeisterschaft 2022 in Katar qualifizieren; mit dem fünften Sieg im fünften Spiel würde Flick auch den Startrekord seines Vorgängers Joachim Löw einstellen.
Den ultimativen Stresstest hat der neue Bundestrainer mit seiner Mannschaft noch nicht erlebt. Die bisherigen vier Gegner lagen in der Fifa-Weltrangliste im Schnitt auf Position 93. Bei einem großen Turnier, vor allem in möglichen K.-o.-Spielen, warten also ganz andere Herausforderungen. Und trotzdem ist die Tendenz positiv. Denn entscheidend ist die Haltung, die das Team seit dem Trainerwechsel auf dem Platz zeigt. „Uns geht es um Begeisterung, um Überzeugung und um Hingabe“, hat Flick in einem Interview mit dem „Kicker“ gesagt.
Auch wenn er diese und ähnliche Botschaften mit einer gewissen Penetranz verbreitet und sich manches anhört wie Kalendersprüche: Die Mannschaft folgt ihm: „Unser Trainer Hansi ist dafür prädestiniert, ein Team zusammenzubringen“, sagt Innenverteidiger Antonio Rüdiger. Dazu haben auch die Anpassungen im Spielsystem beigetragen. Aktiver, dominanter, aggressiver und immer mit dem Blick nach vorne – so will der Bundestrainer seine Mannschaft sehen. „Das liegt uns einfach“, sagt Rüdiger.
Flicks Klarheit tut dem Team gut. Bei ihm wissen die Spieler, woran sie sind – im Unterschied zu den letzten Wochen und Monaten unter seinem Vorgänger Löw, der zunehmend eigenbrötlerischer unterwegs war, in seinen Ideen ein bisschen verschroben und insgesamt fast schon ein bisschen tüddelig. Während Löw – zum Beispiel mit seinem Festhalten an der Dreierkette bei der EM – das Gespür für die Stimmung innerhalb seines Teams vermissen ließ, weiß Flick genau, was seine Spieler wollen und brauchen. „Der Trainer hat einige Elemente, die uns bei den Bayern stark gemacht haben, hier mit rübergenommen“, sagt Thomas Müller.
Flickt lobt bei jeder Gelegenheit die Qualität und das Potenzial
Als Flick im Herbst 2019 den FC Bayern München übernahm, war die Ausgangslage ähnlich. Die Mannschaft galt als ausgelaugt und nicht mehr zukunftsfähig. In der Bundesliga lag sie nur auf Platz vier. Und dass sie auch international nicht mehr konkurrenzfähig war, hatte sich im Frühjahr, beim Achtelfinalaus gegen den FC Liverpool gezeigt, als sich Flicks Vorgänger Niko Kovac für eine eindeutige Underdog-Taktik entschieden hatte. Später hat er das so erklärt: „Man kann nicht versuchen, 200 Kilometer pro Stunde auf der Autobahn zu fahren, wenn man nur 100 schafft.“
Hansi Flick hat dann bewiesen, dass man mit dem Boliden FC Bayern auch locker 220 schaffen konnte.
Genau das versucht er jetzt auch mit der Nationalmannschaft, auf die auch schon einige Abgesänge angestimmt worden waren. Flick hingegen lobt bei jeder Gelegenheit die Qualität und das Potenzial in seinem Kader. Selbst wenn er nach etwas ganz anderem gefragt wurde.
Es lag nicht in der Natur der Bayern, abwartend und ultradefensiv zu spielen. Es liegt auch nicht in der Natur der Nationalmannschaft. Und es liegt offenbar auch nicht in der Natur von Hansi Flick. In der Pressekonferenz vor dem Spiel gegen Rumänien hat er zu einem Journalisten gesagt: „Sie wissen ja, dass ich immer positiv denke.“