“Nahschuss” hat eine sehr westdeutsche Perspektive
„Dieser Film ist inspiriert durch das Leben des Dr. Werner Teske, der 1981 hingerichtet wurde“, steht am Ende von Franziska Stünkels Stasi-Drama „Nahschuss“. Dankenswerterweise. Ohne den Hinweis auf die reale Geschichte hätte man Mühe zu verstehen, was das Drama von „Nahschuss“ sein soll.
Teske arbeitete für die Auslandsspionage der Staatssicherheit. Fing an zu zweifeln und zu trinken, veruntreute Geld und hortete bei sich zu Hause Akten. Ob er zum BND überlaufen wollte, ist ungewiss. Weil das 1979 aber der MfS-Oberstleutnant Werner Stiller tat, statuierte man, so legen es Berichte nahe, an Teske ein Exempel. Der Stasi-Mann wurde in einem unfairen, nach 1990 wieder aufgerollten Prozess zum Tode verurteilt und als letzter Mensch in der DDR 1981 hingerichtet.
Ein Problem von „Nahschuss“ ist das ungelenke Drehbuch der Regisseurin. Zur Stasi kommt der Film-Teske, der Franz Walter (Lars Eidinger) heißt, wie die Jungfrau zum Kinde. Eigentlich soll Walter für ein Jahr zur Forschung nach Afrika, wird dann aber aus dem Flugzeug geholt und als Mitarbeiter in der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) angeworben. Die schicke Wohnung, die er bekommt, überzeugt ihn und seine Freundin Corina (Luise Heyer).
Welche Einstellung Walter zur Stasi hat, die sein Vater (Christian Redl) offenbar als problematisch empfindet, erfährt man nicht. Die Action mit dem Flugzeug dient folglich nur dazu, Walter als Opfer zu inszenieren, der von etwas abgehalten wird, weil er zur Stasi muss. Die Uni-Laufbahn fungiert als das Außen der Stasi-Welt. Teske lehrte an einer Stasi-Hochschule, war vor der Festanstellung schon Inoffizieller Mitarbeiter (IM). Weil „Nahschuss“ diese Verbindung seines Helden mit dem System scheut, bleibt die Walter-Figur so offen.
Geheimbotschaft in der Klorolle
Ein anderes Beispiel für das umständliche Buch ist Walters erster Fall: der im Westen gebliebene Fußballspieler Horst Langfeld (Leon Hoge). Den kennt Walter von früher, was aber keine Rolle spielt und deshalb als Ornament nur zu Irritationen führt. Erzählerisch hat Stünkel kein Gespür für Zeit und Entwicklung. Anschaulich wird das an einer Botschaft, die der schon kriselnde Walter bei einer Stasi-Visite im Hause von Langfeld hinterlässt – auf dem Klopapier.
Als Walter Wochen, wenn nicht Monate später wieder im Haus von Langfeld ist wegen dessen Selbstmord, ist das Blatt mit der Nachricht noch nicht abgerissen. Während also Walter in Ost-Berlin vor sich hingelitten haben soll, war Langfeld nicht einmal auf dem Klo.
Das mag auf den ersten Blick eine Kleinigkeit sein. Sie zeigt aber, wie unfertig die Geschichte entworfen ist. Die Idee mit der Nachricht weiter hinten auf dem aus- und wiedereingerollten Klopapier ist zwar hübsch, ein Trick, der etwas vom Detektivspiel hat. Aber darin genügt sich die Geschichte. Und bedenkt nicht mehr, wie sie diesen Einfall zu Ende erzählt.
Die DDR sieht stylisher aus, als sie war
Das Drama von „Nahschuss“ wird derart reduziert auf Schlüsselreize. Dass DDR aufgerufen wird, wenn jemand „Brettsegeln“ statt Surfen sagt. Oder dass Walter zum Stasi-Gegner mutiert, als geplant wird, Langfelds Frau eine falsche Krebsdiagnose zu geben, damit der Fußballer in die DDR zurückkommt.
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Der Referent dieses Plans bleibt in der Szene unscharf, die Kamera (Nikolai von Graevenitz) fokussiert Walter, dem Eidinger eine Palette Unwohlsein aufs Gesicht tanzt. Dieses einfache Entsetzen erzählt aber eher etwas über die (westdeutsche) Perspektive auf Geheimdienstpraktiken eines repressiven Regimes als über die Dramen im MfS.
Visuell baut die Szenenbildnerin Anke Osterloh die DDR stylisher nach, als sie gewesen ist. Die in der Ausstattung von „Das Leben der Anderen“ dominanten Braun-, Grau- und Grüntöne sind hier weiter abstrahiert durch Reduktion: aufgeräumte Sets, die eine generische Reinheit vermitteln, wie man sie von Thomas Demands Fotografien kennt. Das Leben von allen Anderen.
Durch die fast experimentelle Besetzung, die Typisierungen einen Strich durch die Rechnung macht (Kai Wiesinger als Stasi-Oberst!), entsteht hier ein merkwürdiger Kontrast: Lars Eidingers superfühliges Verzweiflungstheater, das in Sekunden die Skala von bockigem Bibbern bis großem Kotzen hoch- und runterjagen kann, wirkt genauso isoliert wie Citys sich emotional verausgabender Hit „Am Fenster“. Man weiß nicht, was Franz Walter hat. Aber irgendwas wird’s schon sein. (In zwölf Berliner Kinos)