Mitbieten in der Schnapshalle

Wenn Rodrigo Iervolino vor sechs Jahren seinen Berliner Bekannten davon erzählte, dass er eine ehemalige Schnaps-Destillerie in Reinickendorf kaufen werde, um sie zum Kreativstandort auszubauen, runzelten die meisten die Stirn: Reinickendorf? Selbst unter den Berlinern waren viele noch nie in der Ecke gewesen.

Reinickendorf liegt weit weg von den hippen Locations in Mitte und Friedrichshain. Jetzt aber, wo der nahegelegene Flughafen Tegel bald zur „Urban Tech Republic“ ausgebaut wird, verändert sich die Topografie und Reinickendorf ist nicht mehr so weit ab vom Schuss.

Unbekannte Orte in der Stadt sind Konzept

Das hat auch der Publizist und Kulturmanager Holm Friebe erkannt. Spannende, unbekannte Orte in der Stadt zugänglich zu machen gehört zum Konzept der von ihm ersonnenen „Direkten Auktion“, einer Selbsthilfeaktion für pandemiegeschädigte Künstler:innen, die im vergangenen November zum ersten Mal stattfand.

Dabei wurden Kunstwerke, die meisten stammten direkt aus Berliner Ateliers, bei einer niedrigschwellig konzipierten Online-Auktion versteigert und das Gros der Einnahmen kam direkt den beteiligten Künstler:innen zugute.

„Art aber fair“ lautet das Motto, das den höchst ungerechten Kunstmarkt solidarisch umkrempeln will. In diesem Jahr hat Friebe mit neuem, größerem Team und unterstützt vom Wirtschaftssenat noch ein Schippchen draufgelegt. An sechs Samstagen von August bis September werden online und live rund 600 Werke lokaler Künstler:innen und Galerien versteigert.

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Schließlich ist Corona nicht vorbei und alternative Einnahmequellen brauchen die in der Stadt lebenden Kreativen sowieso. Und für das große Auftaktwochenende und die erste Auktion hat Friebe das Gelände der Monopol Destillerie in Reinickendorf ausgewählt.

An einem sonnigen Julitag sitzen Iervolino und Friebe im Hof der Fabrik. Sie haben einige Journalisten, Künstlerinnen und Kuratoren zu einem Vorabbesuch ins „Monopol“ eingeladen. Auf einem Holzpodest sind Sessel um einen Tisch gruppiert, in Hochbeeten wachsen Salat und Küchenkräuter, ein kleines Wäldchen spendet Schatten.

Umwidmung. Auch die Totentanz-Tapisserie von Noël Saavedra wird versteigert.Foto: Stephanie Neumann

Linker Hand liegt ein ehemaliges Verwaltungsgebäude mit Klinkerfassade, in dem seit etwa zwei Jahren Künstler:innen Ateliers bezogen haben. Iervolino, der aus Argentinien kommt und eine Weile in New York lebte, bevor er nach Berlin zog, erzählt von den Plänen, die er und seine Geschäftspartner für das Areal haben:

Der große Industriekomplex zwischen Provinzstraße und den S-Bahngleisen war 1899 im Auftrag der Ostdeutschen Spritfabrik erbaut worden, später war hier die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein ansässig, nun will ihn eine Gruppe aus Immobilienentwicklern, Start-up-Gründern und Kreativindustrie-Gurus zu einem experimentellen Ort für die Tech- und Ernährungsbranche ausbauen. Künstler, Gourmet-Köche und Kreative sollen sich hier ansiedeln, ein neues Gebäude ist geplant.

Es soll ein Campus entstehen, der Essen, Technologie und Kultur auf einzigartige Weise zusammenbringt, erzählt Iervolino. Bald soll mit ersten Sanierungen der denkmalgeschützten Fabrikgebäude begonnen werden.

[Ab Sa 14.8. Vorbesichtigung im Monopol, Provinzstr. 40-44, Sa/So 12-20 Uhr, Di-Fr 15-18 Uhr, erste Versteigerung am 21.8., www.direkteauktion.com]

Zum Kreis der Entwickler gehört „Design-Hotels“-Gründer Klaus Sendlinger, der mit seinen nachhaltigen Boutique-Unterkünften als absoluter Trendsetter im Hotelbusiness gilt. Im Frühjahr 2022 will er in einem Lichtenberger Plattenbau das „Marina Marina“ eröffnen, ebenfalls ein schicker Campus für Wohnen und Arbeiten.

Neben anderen ist auch Ralf Wenzel, Gründer des Essenslieferdienstes Foodpanda und der Jurist und Brandingexperte Antonio de la Rúa, Sohn des argentinischen Ex-Präsidenten dabei, der sich mit seiner Ex-Verlobten Shakira eine Weile heftig um deren Vermögen stritt.

Früher standen hier Kessel

Iervolino startet seine Tour über das riesige Gelände mit Pförtnerhaus, Produktionsgebäuden und Kühlturm. Die ehemalige Destillationshalle ist über eine eiserne Außentreppe zu erreichen, hinter der Tür liegt ein riesiger Raum mit einem steinernen, kreisrunden Bodenpodest, auf dem früher die Destillationskessel platziert wurden.

Über eine schmale Stiege steigt man in den Bauch des Turms hinab, „Moon, star, sun“ nennen sie den Ort. Wie er später genutzt werden soll steht noch nicht fest. Musik, Klanginstallationen und Parties kann man sich hier gut vorstellen und die hat es in den vielen Jahren des Leerstands seit der Wende auch schon gegeben.

Kippenberger, Beuys und Christo

Wenn die Gäste ab dem Wochenende zur Vorbesichtigung der Auktionswerke auf den Hof kommen, werden sie die zu ersteigernde Kunst im Apparatehaus an der Ostseite des Hofes finden, zwei der vier Etagen werden als Ausstellungsfläche genutzt. Die raue Industriehalle wird mit Werken von Kunstmarktgrößen wie Martin Kippenberger, Joseph Beuys und Christo ebenso bestückt sein wie mit aktuellen Bildern, Webereien und Skulpturen von in Berlin lebenden, aufstrebenden oder gänzlich unbekannten Künstler:innen.

Insgesamt 31 Kurator:innenteams aus Berlin haben die Werke ausgewählt, die hier gezeigt und versteigert werden. Später zieht die „Direkte Auktion“ weiter, etwa in die Sky-Lounge des ehemaligen Postscheck-Turms am Halleschen Ufer, der kurz vorm Umbau steht, und in einzelne Galerien. Die Veranstalter haben einen wahren Entdecker-Parcours durch die Stadt organisiert. Holm Friebe selbst hat den von ihm kuratierten Slot im Monopol „BRD noir“ genannt. Er hat Stücke aus Berliner Privatsammlungen zusammengetragen, so steuerte etwa Sammler Ulrich Seibert einen Holzschnitt vom „Brücke“-Maler Erich Heckel bei, der mit einem Schätzpreis von 1200 Euro taxiert ist.

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Die „Direkte Auktion“, bei der eigene Regeln gelten, bezeichnet Friebe als „neues solidarisches Format der ökonomischen Kunstvermittlung“, als „Umverteilungsplattform für monetäre und symbolische Werte“, das Geld soll von den Corona-Gewinnern zu den Verlierern fließen, denn als diejenigen sehen die Veranstalter die Künstlerschaft an.

Während im klassischen Auktionshandel ein hohes Aufgeld an den Versteigerer bezahlt werden muss und die erzielten Erlöse ansonsten den Einlieferern zufallen – die Künstler verdienen beim oft viel höheren Wiederverkauf ihrer Werke nicht mit – läuft es bei dieser Auktion anders. Die Werke stammen direkt aus den Studios und Galerien.

Ein Solifonds soll Künstler unterstützen, die nichts verkaufen

Das Aufgeld entfällt, 75 Prozent der Einnahmen gehen an Künstler, Kuratorinnen und Galerien, 66 Prozent landen in der Regel direkt bei den Künstlern. 10 Prozent gehen an die Organisatoren, 15 Prozent an das Auktionshaus Ostdeutsche Kunstauktionen, das die Versteigerungen durchführt. Geplant ist auch ein Solidaritätsfonds, der all denjenigen zugutekommt, die nichts verkauft haben.

„Alle Kunstmarktteilnehmer sollen profitieren, wir wollen niemanden ausschließen“, sagt Holm Friebe. Das Ökosystem der Kunst brauche alle, Künstler, lokale Galerien, Auktionshäuser. Die Rivalität, die im herkömmlichen Kunstmarkt zwischen Galerien und Auktionshandel herrsche, wolle man nicht unterstützen. Holms selbsterklärtes Ziel ist es, neue Sammler und Sammlerinnen in Berlin zu mobilisieren.

In einem Youtube-Video spricht er gezielt „Start-up-CEOs“, „Kommunikationsagenturbesitzer“ und die „Erbengeneration“ an. Diejenigen, die die Vorzüge der kreativen Stadt genießen, sollen dazu angeregt werden, ihren Beitrag in der Coronakrise in Form von Kunstkäufen zu leisten. Echte Kunst statt billiger Reproduktionen an den Wänden, so das Credo. Startpreise zwischen 100 und 10 000 Euro sollen dazu beitragen, dass alle, die möchten, auch mitbieten können. Auf dem Start-up-Campus in spe ist man da schon mal an der richtigen Adresse.