Endlich wieder großes Kino
Es staut sich ein wenig am roten Teppich. Der deutschen Filmprominenz sei es verziehen, es ist die erste Gelegenheit seit über einem Jahr, sich im Blitzlichtgewitter zu sonnen. Nach etlichen Festivalpremieren und Preisverleihungen im Zoom-Call muss man sich an das angestammte Habitat erst wieder gewöhnen. Der rote Teppich ist der place to be der Berlinale für Stars und Publikum. Fast hätte man vergessen, wie sich das anfühlt, das Warten.
Aber eilig hat es am Mittwochabend niemand zwischen den Kolonnaden an der Alten Nationalgalerie. 16 Monate hat man auf dieses Ereignis warten müssen, da macht eine halbe Stunde mehr auch nichts aus. Die Berlinale 2020 war die letzte große Kulturveranstaltung vor der Pandemie, sie kam mit einem blauen Auge davon. Danach verabschiedete sich die Kultur, um im Sommer noch einmal kurz hervorzulugen. Seit November lag das Kulturleben brach. Nun ist es auch die Berlinale, die Berlin aus dem Coronaschlaf erlöst und den Kultursommer 2021 einleitet. Ein Sommer, den wir so bald nicht vergessen werden.
“Endlich wieder großes Kino!”, sagt Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung. Und sie lobt noch einmal “die Beharrlichkeit, das Engagement und die Nervenstärke” von der Berlinale-Doppelspitze Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, die stur – und scheinbar wider die Vernunft – an einer Publikums-Berlinale im Sommer festgehalten haben. Und nun sitzen also ein paar hundert Gäste in einem improvisierten Freiluftkino zwischen Alter Nationalgalerie und Neuem Museum und können es noch gar nicht recht glauben, dass gleich vor ihnen ein Film beginnen soll.
“Filmkunst trifft Weltkulturerbe”, meint Grütters angesichts der imposanten Kulisse auf der Museumsinsel. An diese Blickachse (Dom, Fernsehturm, Humboldt Forum) könnte man sich auch für zukünftige Berlinalen gewöhnen, den unwirtlichen, kulturlosen Potsdamer Platz wird in diesem Jahr niemand vermissen. Fast intim wirkt diese Eröffnungsveranstaltung, die Sitzreihen sind luftig belegt – Corona-Maßnahmen.
Der Himmel über Berlin
Auch der Dresscode ist sommerlich-leger. Die Gala-Outfits aus dem Frühjahr sind im Schrank geblieben. Die Männer haben ihrer Lockdown-Mode zum feierlichen Anlass nur ein leichtes Upgrade verpasst, als Frau hat man es im Sommer leichter mit der modischen Eleganz. Die Stimmung erinnert an ein Public-Viewing. Die Snackboxen mit Oliven, Hummus und Sekt werden noch während der Reden aufgerissen und auf dem Schoß verzehrt. Die Berlinale war schon immer eine demokratische Veranstaltung.
“Die Menschen haben die Straßen und Parks zu ihren Wohnzimmern gemacht”, sagt Carlo Chatrian in seiner Begrüßungsrede. “Von dieser Stimmung wollen wir uns inspirieren lassen.” Er spricht auf deutsch, genug Zeit zum Lernen hatte er ja. Auch Chatrian und Rissenbeek ist die Erleichterung anzumerken. Sie sind auf volles Risiko gegangen: eine Branchen-Berlinale im März mit Bären-Gewinnern und dann im Sommer kein Publikumsfestival – nicht auszudenken. Jetzt scheint die Sonne auf das Festival.
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Monika Grütters ist sogar so aufgeregt, dass sie den Himmel über Berlin lobt – und den Film dann dem falschen Regisseur zuschreibt. Glücklicherweise sind bei solchen Veranstaltung die Cinephilen in der Minderheit, es ist nur ein leichtes Raunen zu vernehmen. Wim Wenders wird es verschmerzen. Frau Grütters Festredenschreiber – vielleicht nicht.
Menschen für den Ort Kino begeistern
Das Berlinale-Feeling ist ein anderes in diesem Jahr, nicht nur wegen der sommerlichen Temperaturen. Auf internationale Stars wird man vergeblich warten, das Gedrängel am roten Teppich fällt aus. Die Berlinale wird tatsächlich zum Berliner Wohnzimmer, der Star ist das Publikum. Die Filmfans sind gleichzeitig die Hauptdarsteller:innen einer einmaligen Show. Ohne Publikum kein Kino.
Daran erinnert auch Chatrian in dieser schwierigen Zeit: “Das Kino ist ein kollektive Erlebnis.” Kinos seien auch wichtig für die Berlinale – darum gibt es dieses Sommer-Event, darum sind die Berliner Kinos in diesem Jahr Berlinale-Mitveranstalter. Gerne würde man an diesem Abend auch eine Stimme aus der schwer gebeutelten Kinobranche hören. Kein Klagen, sondern als ein Zeichen der Hoffnung. Aber wenn man in die Gesichter blickt, bleiben eigentlich keine Zweifel am Kino.
Mariette Rissenbeek sagt noch etwas sehr Schönes, Bedenkenswertes. Die wichtigste Berlinale-Reihe sei für sie nicht der Wettbewerb, sondern die “Generations” – die Kinder- und Jugendfilme. Als einziges großes Festival widmet die Berlinale den jungen Kinofans eine eigene Reihe, denn ohne sie wird das Kino keine Perspektive haben.
Die digital natives haben sich daran gewöhnt, Filme nur noch zu streamen. Dabei sei es gerade die Aufgabe eines Filmfestivals, ein junges Publikum zu motivieren, ins Kino zu gehen, es “für den Ort Kino zu begeistern”. Das ist, mitten in einer handfesten Krise, endlich mal keine Durchhalteparole. Sondern das perfekte Berlinale-Motto für die kommenden elf Tage.