„Frauen mit Behinderung schaffen es kaum in leitende Positionen“
Frau Marx, die Aktion Mensch hat eine Studie veröffentlicht, die erstmals systematisch die Erwerbssituation von Frauen mit und ohne Behinderung im Verhältnis zu Männern mit und ohne Behinderung vergleicht. Das Fazit sehr kurzgefasst lautet: Frauen mit Behinderungen sind die „Verliererinnen“ auf dem Arbeitsmarkt. Welche Ergebnisse der Studie haben Sie am meisten überrascht?
Die These, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Behinderung doppelt diskriminiert sind, hatten wir schon länger. Es ist aber interessant, wie klar die Ergebnisse genderspezifische Erkenntnisse liefern: Frauen verdienen insgesamt weniger – Frauen mit Behinderung nochmal weniger. Und: Wir haben Frauen mit Behinderung nach ihrem Bewerbungsprozess gefragt, und da haben uns viele Befragte tatsächlich auch gesagt, dass sie sich aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert gefühlt haben.
Um welche Art der Diskriminierung handelte es sich da?
Es ging in einem Fall zum Beispiel um eine unbefristete Vollzeitstelle. Als klar wurde, dass die Bewerberin eine Behinderung hat, da wurde es auf einmal eine befristete Stelle, anders als bei der Mitbewerberin ohne Behinderung. Das zeigt natürlich, dass hier wirklich diskriminiert wird, und das versuchen wir mit solchen Studien deutlich zu machen.
Welche Herausforderungen ergeben sich für Frauen mit Behinderung noch?
Da wäre die Bezahlung: Frauen verdienen deutlich weniger und arbeiten viel häufiger in Teilzeit. Das Thema Doppelbelastung: Frauen mit Behinderung –auch Frauen insgesamt – kümmern sich viel mehr um den Haushalt oder die Pflege von Angehörigen. Die Befragten haben oft beklagt, dass sie die Unterstützung von ihren Partnern nicht immer so erfahren, wie sie das wollen. Eine weitere Kernerkenntnis ist das Thema Karriere: Frauen mit Behinderung fühlen sich so sehr wie keine andere Gruppe von Aufstieg, Führung und freier beruflicher Gestaltung ferngehalten. Gerade einmal jede Zehnte – der niedrigste Wert im Gruppenvergleich – arbeitet in einer leitenden Position. Das hat auch damit zu tun, dass sie oft nicht nach Weiterbildung fragen, sie einfordern und sich nicht sagen: „Ich kann das, ich möchte das.“
Welche Unterschiede gibt es zwischen Menschen mit einer angeborenen Behinderung und Menschen, die eine Behinderung im Laufe des Lebens erhalten?
Man kann im Grunde sagen: Ein Mensch mit einer angeborenen Behinderung hat es nochmal schwerer als jemand, der im Laufe des Lebens eine Behinderung erwirbt oder eine chronische Krankheit bekommt. Wenn das im Arbeitsleben passiert, hat dieser Mensch wahrscheinlich schon ein Regelsystem durchlaufen, ist auf einer „normalen“ Schule gewesen, hat auf dem Arbeitsmarkt Fuß gefasst – und dann gibt es Mechanismen im System, die vielleicht greifen. Zum Beispiel das betriebliche Eingliederungsmanagement für sogenannte – das ist ein schreckliches Wort – „leistungsgewandelte Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen“. Wenn ein Mensch im Unterschied dazu mit einer Behinderung auf die Welt kommt, dann muss er sich schon ab der Kita oder ab der Schule in gewissem Sinne doppelt beweisen. Dann ist der Weg auf dem ersten Arbeitsmarkt deutlich schwieriger, als wenn man ein Regelsystem durchlaufen hat.
Wird es für Menschen mit Behinderung jemals möglich sein, auf dem Arbeitsmarkt gut entlohnt zu werden und Teilhabe zu erfahren?
Ich glaube schon. In der Studie ist deutlich geworden, was Teilhabe außer der Entlohnung befördern kann. Je nach Beeinträchtigung braucht es vielleicht viel flexiblere Arbeitszeiten oder -modelle, weil möglicherweise Zeit für Therapien oder Ruhephasen zwischendurch benötigt wird. Ich sehe jetzt gerade im Kontext der Digitalisierung große Chancen. Gerade für Menschen mit Behinderung können durch flexibles und mobiles Arbeiten die individuellen Bedürfnisse stärker berücksichtigt werden.
Und das Thema Entlohnung – braucht es dafür Gesetze?
Das ist eine schwierige Frage. Das Thema „Equal Pay“, also die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern, wird unabhängig von Behinderung sehr stark diskutiert. Auf dem Arbeitsmarkt kreist die Diskussion mit Blick auf Menschen mit Behinderung aber meistens um die Frage: „Erfüllen Arbeitgeber*innen die Quote?“. Bei mehr als 20 Mitarbeiter*innen müssten fünf Prozent der Arbeitnehmer*innen Menschen mit Behinderung sein. Viele Arbeitgeber*innen – in der Privatwirtschaft noch mehr als in der öffentlichen Hand – „kaufen“ sich von dieser Verpflichtung mit einer Abgabe frei. Ich glaube aber auch, dass Frauen insgesamt selbstbewusster werden und eine gerechte Entlohnung verlangen müssen, also dass auch ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass man für die gleiche Arbeit gleich entlohnt werden muss.
Welche Aussagen von Unternehmen können Sie nicht mehr hören?
Sowas wie: „Ich weiß gar nicht, wo ich Unterstützungsleistung herbekommen kann und wie das funktionieren soll.“ Und: „Ich weiß nicht, wer mit welcher Behinderung überhaupt was kann.“
Das klingt ziemlich ignorant.
Die Erfahrung zeigt zum Glück, dass Arbeitgeber*innen, die einen Menschen mit Behinderung eingestellt haben und gute Erfahrungen gemacht haben, offen sind, weitere Menschen mit Beeinträchtigung einzustellen. Die Hürde ist dann gefallen, und die Vorurteile sind vielleicht weniger geworden. Ich kann mich an einen Malerbetrieb erinnern, der einen gehörlosen Mitarbeiter angestellt hat. Die anderen Mitarbeiter*innen haben auf einmal gelernt, sich grundsätzliche Begriffe in Gebärdensprache anzueignen und dann gab es weitere gehörlose Kolleg*innen, die eingestellt worden sind.
Frau Marx, aus Sicht einer großen privaten Förderorganisation sind Sie sicher nicht immer mit Entscheidungen aus der Politik zufrieden. Über welche Punkte streiten Sie am meisten mit Politikerinnen und Politikern?
Ein Thema, bei dem wir im Moment am meisten an der Seite von Menschen mit Behinderung streiten, ist das Thema „Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft“. Es wurde kürzlich das neue Barrierefreiheitsstärkungsgesetz verabschiedet. Menschen mit Behinderung haben dazu gesagt: „Das ist doch kein wirkliches Stärkungsgesetz.“ Die Übergangsfristen sind viel zu lang.So haben Anbieter*innen etwa eine Übergangszeit von 15 Jahren, um barrierefreie Selbstbedienungsterminals aufzustellen.Dann können diese aber trotzdem an einer Stelle stehen, die mit Stufen versehen ist. Das ist alles nicht zu Ende gedacht. Dabei ist Barrierefreiheit für Inklusion und Teilhabe eine Grundvoraussetzung.
Wie genau streitet die Aktion Mensch da mit den Betroffenen mit?
Ende August startet unsere Inklusionskampagne, die Alltagsbarrieren aufzeigt. Das können beispielsweise E-Scooter sein, die im Weg liegen oder achtlos abgestellte Fahrräder. Wenn ein blinder Mensch mit seinem Blindenstock dort entlang geht, dann ist das eine Stolperfalle. Wenn Menschen im Rollstuhl sitzen oder Prothesenträger*innen sind, dann sind sie auf funktionierende Aufzüge am Bahnhof angewiesen. Wir wollen den Blick auf solche Alltagsbarrieren lenken – und haben dazu auch eine Förderaktion ins Leben gerufen: „Eine Barriere weniger“. Wir wollen damit den öffentlichen Raum barrierefreier machen und etwa die Bäckerei um die Ecke dazu anregen, sich mit einem Förderpartner zusammenzutun, einem gemeinnützigen Verein, um zum Beispiel eine Rampe an ihrem Eingang zu bauen.
Und dies sind „nur“ die baulichen Barrieren.
Genau, es geht aber auch um Barrierefreiheit in der Kommunikation, wie etwa darum, eine*n Gebärdensprachdolmetscher*in bei einer Ratssitzung zu engagieren. Wir haben auch dazu eine Befragung mit Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gemacht. Viele haben beispielsweise die Situation in Ämtern und Behörden bemängelt. Sowas wie Leichte Sprache ist da sehr wichtig. Oder auch, dass Dokumente oder Schreiben so gestaltet sind, dass sie vorgelesen werden können, für blinde Menschen zum Beispiel. Das alles sind auch Fragen von Bewusstsein und Sensibilisierung.
Frau Marx, welche Studie werden Sie als nächstes in Auftrag geben?
Ganz konkret ist das das Inklusionsbarometer Arbeit, hier betrachten wir die Situation von Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Weiterhin auch eine Studie zum Thema Mobilität. Diese beschäftigt sich mit der Frage, wie sich Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen bewegen – in der Nachbarschaft, mit dem eigenen Auto, mit Bus und Bahn – und damit, welchen Bedarf und welche Bedürfnisse sie in diesem Zusammenhang haben.
Wenn Sie eine Forderung sofort durchbringen könnten, welche wäre das?
Das wäre die Ausarbeitung des Barrierefreiheitsgesetzes. Ich würde mir wünschen, dass es wirklich an den Bedürfnissen von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen ausgerichtet ist. Zudem bin ich davon überzeugt, dass Barrierefreiheit allen Menschen nützt. Zehn Prozent der Menschen in Deutschland ermöglicht sie gleichberechtigte Teilhabe, aber für 100 Prozent ist sie angenehm. Wenn Menschen mit einem Rollator oder einem Kinderwagen unterwegs sind, profitieren sie natürlich auch von Barrierefreiheit.
Wie ist es mit der Barrierefreiheit im Breitensport? Mehr als die Hälfte der Menschen mit Behinderung gibt an, keinen Sport zu treiben.
Hier spielen der Wohnort, die Mobilität und die Verfügbarkeit von barrierefreien Sportstätten eine zentrale Rolle – denn nicht alle Menschen haben die Möglichkeit, durch die halbe Stadt zu fahren, um zu einer barrierefreien Turnhalle zu gelangen. Es geht aber auch um entsprechende inklusive Angebote. Denn nicht alle Übungsleiter*innen wissen von den Möglichkeiten, Menschen mit Behinderung miteinzubeziehen. Wir haben gemeinsam mit dem organisierten Sport ein Handbuch entwickelt für das Inklusive Sportabzeichen, damit auch Übungsleiter*innen wissen, wie sich Anforderungen ändern und worauf sie achten müssen, wenn ein Mensch mit Behinderung sein Sportabzeichen machen will.
Welche Rolle übernimmt der Sport beim Thema Inklusion?
Der Sport ist da ein ganz wichtiger Treiber. Unsere Förderung zielt stark darauf ab, wie man den Breitensport inklusiver gestalten kann. Da gibt es zum Beispiel Rollstuhlbasketball-Vereine, in denen Menschen mit und ohne Behinderung zusammen Sport treiben. Oder inklusive Turnvereine, in denen Kinder mit und ohne Behinderung zusammen turnen. Wir fördern auch viel bei den Special Olympics, weil wir der Meinung sind, dass man dadurch auch vor Ort sehr viel bewegen kann.
Gerade finden die Paralympics statt. Bei welchen Sportarten fiebern Sie mit?
Ich gucke vieles gerne. Ich gucke gerne Leichtathletik und Rollstuhlbasketball, weil es so ein schneller Sport ist, da passiert immer etwas, da ist immer Stimmung in der Halle. Oder Bahnradfahren. Ich kann mich noch gut an ein Rennen von Denise Schindler in Rio 2016 erinnern, da war ich dabei. Da lagen Niederlage und Triumph so nah beieinander. Ihr erstes Rennen lag unter ihren Erwartungen. Sie war ganz geknickt und traurig, wir haben uns im Hotel getroffen und da meinte ich: „Ey, das wird schon.“ Später dann hat sie eine Medaille gewonnen.
Diese Nähe zu den Sportlerinnen und Sportlern – Macht das die Spiele aus?
Ja, das ist schon so eine kleine paralympische Familie, eigentlich eine große mittlerweile. Auch wenn die Sportler*innen mit ihren Medaillen ins Deutsche Haus kommen und abends gemeinsam gefeiert wird, das ist toll. Man begegnet sich mit Respekt und man freut sich füreinander.
Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier. Alle aktuellen Entscheidungen und Entwicklungen lesen Sie in unserem Paralympics Blog.