Raus aus dem Seelenpanzer
Bevor man zu tief in die astrologische Deutung der Musik von FKA Twigs einsteigt, und Material dazu gibt es wahrlich genug, muss man ganz kurz ganz genau hinhören. Weil einem sonst vielleicht der feine Humor dieser Frau entwischt. Zu Beginn von „Meta Angel“ zählt die Sängerin die Sterne und Zeichen ihres Geburtshoroskops auf: „Saggi’ Moon, Pisce’ Veen“, Mondzeichen Schütze, Venus in Fische. Dann hält sie für ein paar Sekunden inne, schlürft Luft und stößt ein so genüssliches „Capri Sun“ aus, dass gleichermaßen das Sonnenzeichen Steinbock oder die beliebten Trinktütchen gemeint sein könnten.
Tahliah Barnett, besser bekannt als FKA Twigs, bleibt auch auf ihrem dritten Longplayer „Caprisongs“ eine Meisterin der Zwischentöne und Mehrdeutigkeiten. Das zeigt sich besonders deutlich am Thema Spiritualität, das sich als Leitmotiv durch die 17 Songs dieses selbsternannten Mixtapes zieht. Geburtshoroskope und Sternenkonstellationen sind auch und vor allem in (queer)feministischen Kreisen schon lange wieder angesagt, eine Mischung aus Selbstermächtigungswerkzeug und spielerischer Kunstform. Schlürf, ahh, Capri-Sonne. Ernst und Augenzwinkern. Gleichzeitig fällt die Spiritualität, die in „Caprisongs“ steckt, aber auch in eine größere Erzählung von der Rückeroberung einer Kulturpraxis, die Barnetts karibischen Vorfahren von christlichen Kolonisator*innen einst gewaltsam genommen wurde.
Die Kassette rutscht in die Schublade, Klappe zu, der Play-Button rastet ein. „Hey, I made you a mixtape“, haucht die Künstlerin zu verführerisch-gedehnten chopped and screwed Sounds, „because when I feel you, I feel me. And when I feel me, it feels good.“ Wenn man nicht mit einem Körper- und Seelenpanzer aus Stahl durch die letzten zwei Jahre gewalzt ist, ist man nach 24 Sekunden schon völlig hin und weg. Ja, verdammt, es ist Januar 2022, wer fühlt denn hier noch irgendwas?
Freier, leichter und näher bei sich
Es klickt wieder, das Band beschleunigt. „Reallywannakissme“, sprudelt es aus FKA Twigs hervor. Zu lang habe sie gewartet, jetzt muss es schnell gehen. Kennt man, dieses Gefühl. Der nächste Track „Honda“ stolpert im Zwei-Silben-Flow über einen tiefgestapelten Beat. Es klackert und klopft. Hier schüttelt sich jemand frei. In „Meta Angel“ zwingt die Leidenschaft beinahe die Stimmverzerrer-Software in die Knie: „I got a love for desire. I got a pain for desire.“ Oh, ja. Und dann kommt „Tears in the Club“.
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Die Kollaboration mit The Weeknd hatte FKA Twigs vorab als Single veröffentlicht, auf „Caprisongs“ nun wird sie zum Schlüsseltrack. Ein paar Synthie-Piano-Töne hallen in den erwartungsvollen Raum, dann kommt der Beat auf die Tanzfläche nieder: „I wanna get you out of my hips, my thighs, my hair, my eyes, my late night cries.“ Der Club, zu diesem Zeitpunkt der Pandemie mehr ideeller Ort als real, wird zum Sammelbecken der Sehnsüchte.
Schon mit dem nächsten Schlag wird das Reinigungsritual zur empowernden Selbstliebe: „I wanna take my clothes off, wanna touch my hips, my thighs, my hair, not yours, all mine“. Die zärtliche Vermessung des eigenen Körpers. Nicht dein, ganz mein. Ein kurzer Augenblick, der sich keinem Gefühl versperrt, der alles zulässt, alles rauslässt. Tränen, Lust und Ängste. Das hier ist schließlich Körpermusik. Freier, leichter und näher bei sich klang FKA Twigs nie. Und näher am ganz großen Pop-Hit auch nicht.
„Caprisongs“ ist eine Häutung. FKA Twigs wirft allen Balast ab. Und die Hörer*innen mit ihr. Den verkopften Überbau. Die fremden Vorstellungen. Die schmerzenden Pandemiejahre. Verschwunden sind auch die barocken Kostüme, in denen sich die Künstlerin bei den Live-Auftritten zu ihrer Vorgängerplatte „Magdalene“ kaum bewegen konnte. Nun regiert die Leichtigkeit.
Es geht um Selbstwert und Selbstvertrauen
Auf Social Media hat FKA Twigs kleine „Anti Videos“ geteilt, Musikvideoschnipsel von nur ein paar Sekunden Länge. Perfekte Inszenierungen von Authentizität für die Reels und TikToks der Gegenwart: ein Tänzchen auf der Straße hier, ein Make-up-Trick da. In diese Performance passt natürlich auch das Mixtape an sich, das immer wieder unterbrochen wird vom Klicken der Recordertasten, Spulgeräuschen und gesprochenen Interludes.
In diesen Zwischenstücken geht es um Selbstwert und Selbstvertrauen. „This is the year of greatness, growth and being free“, heißt es an einer Stelle. Und auch wenn das zuweilen arg nach pastelligen Instagram-Therapie-Bildkacheln klingt, man kommt beim Hören doch nicht umhin, ganz doll mitzumanifestieren.
Die Nachricht am Ende von „Oh my Love“ richtet sich dementsprechend gleichermaßen an FKA Twigs und ihre Hörer*innen: „Love yourself, know your worth, fuck crying over these stupid boys.“ Die stupid boys, das liegt natürlich nahe, könnten Barnetts Ex-Beziehungen sein. Robert Pattinson, dessen Fans sie rassistisch beleidigten, und Shia LaBeouf, den sie wegen Körperverletzung anzeigte. Viel Berichterstattung, viele Geschichten, in denen Barnett zum Beiwerk degradiert wurde, Accessoire oder Opfer.
FKA Twigs holt sich ihre eigene Geschichte zurück
Mit „Caprisongs“ holt sich FKA Twigs ihre eigene Geschichte zurück. Hier tritt eine Person auf, die sich selbst und einen festen Stand gefunden hat. Und die gerade deshalb Vielfalt und Komplexität zulassen, unterschiedliche Traditionen und Stile pflegen kann. FKA Twigs wagt sich weit in den Pop, die Beats strecken sich in Trap- und Grime-Gefilde. „Pamplemousse“ ist Highscore-Pop Marke Charli XCX, auf „Papi Bones“ dröhnen die Dancehall-Fanfaren aus den Nullerjahren, „Jealousy“ schwoft durch Afrobeats und „Honda“ lässt einen sakralen Chor auf die Reime des gambisch-britischen Rappers Pa Salieu prallen.
Auch das zeigt uns „Caprisongs“: Selbstfindung ist nichts für Einzelgänger*innen. Der Mensch ist keine Insel und in der Community kommst du zu dir. Noch nie hat FKA Twigs mit so vielen Künstler*innen zusammengearbeitet. Neben Pa Salieu und The Weeknd gibt es Features oder Co-Writing-Credits von Shygirl, Rema und Jorja Smith, und auch Arca taucht an den Reglern auf.
Am Ende der 48 Minuten spürt man, wie sehr FKA Twigs diese Platte gebraucht hat. Und nicht nur sie. Anders als jüngst Adeles „30“ ist „Caprisongs“ nicht nur ein persönliches Therapiealbum für die Künstlerin, sondern auch ein therapeutisches Album für ihre Zuhörer*innen. Das zeigt, was sich bewegen kann, wenn man beginnt, sich zu bewegen.
Um erahnen zu können, zu was diese freie, in sich ruhende und nach außen strahlende FKA Twigs noch alles fähig sein wird, muss man noch ein Mal ganz genau hinschauen. Auf dem Cover von „Caprisongs“ zieht Barnett mit spitzem Fingernagel ihre Unterlippe nach unten und entblößt ein Wort, in feinen Lettern auf ihre untere Zahnreihe geschrieben: „goat“. Das könnte „Ziege“ heißen, oder aber, schlürf, ahh, „Greatest Of All Time.