Herzen, die die Welt anhalten
Die Straßen der Stadt, dessen legendäres Theaterfestival im letzten Jahr ausfallen musste, sind nicht so voll wie sonst, und doch versucht das Publikum, an die Tradition anzuknüpfen: Avignon wieder als großes republikanisches Forum für das Denken und die Kunst zu etablieren. In wenigen Tagen wird dies der einhundertjährige Philosoph Edgar Morin mit seinem Auftritt im Papstpalast beglaubigen.
Zehn Tage vor Beginn des Festivals erlaubte der staatliche Öffnungsplan wieder einhundert Prozent Platznutzung in den Theatern. Sogleich wurden die Kassen für weitere Kartenverkäufe geöffnet. Beim Zutritt in den Ehrenhof zum Papstpalast wird immerhin ein Impfnachweis oder ein aktueller negativer Coronatest verlangt. Orte mit mehr als 1000 Plätzen sind dieser Regelung unterworfen. Alle anderen Theater sind ohne Kontrollen zugänglich. Möglich, dass Emmanuel Macron angesichts der Ausbreitung der Delta-Variante am Montag Änderungen verkündet.
Avignon begann also mit optimistischen Hygieneregeln und ungebremstem Theateroptimismus. Als am Eröffnungsabend das Saallicht im Papstpalast erlosch, applaudierte das Publikum begeistert der noch menschenleeren Bühne. Es freute sich auch auf die Inszenierung eines Theatermannes, den Kulturministerin Roselyne Bachelot am Vormittag zum künftigen Direktor der Sommertheaterschau ernannt hatte. Tiago Rodrigues ist derzeit noch Direktor des Lissabonner Teatro Nacional Dona Maria II und wird ab September 2022 für zunächst vier Jahre neuer Direktor des Festival d’Avignon. Er ist der erste Nicht-Franzose an der Spitze der großen französischen Kulturschau. Zeitenwende also.
Auch „Der Kirschgarten“, Tschechows letztes Stück, erzählt über das Ende einer Epoche auf einem überschuldeten Landgut in der Provinz Russlands. Noch bevor das erste Wort fällt, begegnen sich für ein paar stille Momente das Alte und das Neue: Auf den Rängen sitzt das Festivalpublikum auf neu installierten Klappsitzen; auf der Bühne stehen circa hundert der ehemaligen, demontierten Papstpalastsitze. Zweieinhalb Stunden lang wird man sie umräumen, zu einen Stuhlberg aufschichten und schließlich an der Seitenbühne aufstapeln, um Freiraum zu schaffen.
Symbolischer konnte Tiago Rodrigues das 75. Festival nicht als Zäsur kenntlich machen. Im Ensemble, das hier eine moderne, gitarrensound- und perkussionsgetriebene, quasi pulsende und groovenden Zeitenwendegesellschaft mit Verve und Vitalität verkörpert, sind vier schwarze Akteurinnen und Akteure. Isabelle Huppert spielt die Gutsherrin als gerade aus Paris zurückgekehrtes Fabelwesen, halb Hippie halb durchgeknallte Borderlinerin.
Publikum und Presse verlassen den Palast mit gemischten Gefühlen
Anders als in früheren Inszenierungen, in denen ein nostalgisches Bedauern über den Untergang einer schönen alten Welt mitschwang, betont Rodrigues hier Tschechows innovationsfreudige Seite. Vertreten wird sie durch den Kaufmann Lopachin, der der hoch verschuldeten Gutsherrin Ranjewskaja rät, den Kirschgarten zu verkaufen und das Gelände in eine kleinbürgerliche Datschenoase zu parzellieren.
Lopachin wird vom aus dem Senegal stammenden Adama Diop gespielt. Nachdem er den Kirschgarten ersteigert hat, feiert er stolz das Eigentum eines Ortes, an dem Vater und Großvater als rechtlose Sklaven dienten. Allerdings bleibt der dramaturgische Anlass für diese diverse Besetzung letztlich unklar, und Publikum und Presse verlassen den Papstpalast mit gemischten Gefühlen.
Die künstlerischen Marken setzen in der erste Woche drei Frauen mit höchst unterschiedlichen Regiehandschriften. Allen voran: Angelica Liddell mit „Liebestod“. Das Bühnenbild ist nichts weiter als ein ockerfarbenes Stück Bande, wie man es aus Stierarenen kennt, mit zwei Ausstiegen, aus denen gelegentlich Nebenfiguren den Spielraum treten. Dieser Liebestod ist ein Solo der spanischen Regisseurin und Performerin im Kampf mit ihren Dämonen.
„Liebestod“ schließt auf direktem Weg zum Mythos der Todessehnsucht auf, feiert den Stier und den legendären Stierkämpfer Juan Belmonte, ist aber auch eine Publikumsbeschimpfung: Es sei eine Theokratie zu errichten, weil ein umfassendes Sicherheitsdenken in einer total rationalen Welt die Menschen in Idioten verwandelt habe, die ihre kleinen Rechte mästeten wie Hausschweine.
„Liebestod“ ist Ausnahmetheater
Liddell sucht Inspirationen in Wagner-Mythen. „Liebestod“ ist eine Beschwörung, eine Passion und Abrechnung mit einer Kultur, die den Kontakt zu ihren mythologischen Quellen verloren hat. Ein Theaterritus in gewaltigen Bildern und heftigen Texten. „Liebestod“ ist aber vor allem auch das Eingeständnis des notwendigen Scheiterns der Künstlerin in einer apollinischen Vernunftskultur. Es ist in der von Milo Rau initiierten Reihe „Histoire(s) du Théâtre“ der bislang persönlichste Beitrag.
Zunächst spricht die furiose Performerin zu einem lebensgroßen Stiermodell. Die einzige Chance, sich vom Tod zu befreien sei, ihn sich herbei zu wünschen, sagt sie. Zu den Klängen einer Bachschen Orgelfuge schluchzt die Spanierin ihre Trauerandacht über eine mythentötende Zivilisation in den Raum, ist Stier und Stierkämpferin, Priesterin und Opfer eines archaischen Rituals. Wer einmal in Sevilla, Belmontes Heimatstadt, in einer einfachen Kneipe Fotos von der Corrida vermischt mit Bildern des Schmerzensmannes an einer Wand hängen sah, wird Liddells spanischen Synkretismus verstehen. „Liebestod“ ist Ausnahmetheater, und Avignon hat seine Hohepriesterin gefunden. Was soll jetzt noch kommen? Weitere Frauen mit Berichten vom Ende der Welt!
Caroline Guiela Nguyen zeigt in dem futuristischen Märchen „Fraternité, Conte fantastique“ das Scheitern unserer Technologiegläubigkeit. Die Schaubühne wird es im kommenden Frühjahr nach Berlin holen. Während einer Sonnenfinsternis ist die Hälfte der Menschheit verschwunden und nun bemühen sich die Übriggebliebenen mit allerlei technologischen und sozialpädagogischen Mitteln um eine Bewältigung dieses Verlustes.
Das digitale Leben nach dem Hirntod
Spielort ist ein „Pflege- und Trostzentrum“. Dort nehmen die Menschen in einer Kabine eineinhalb minütige Videobotschaften für die Verschollenen auf, machen Familienaufstellungen, veranstalten Kochkurse für die Lieblingsgerichte der Verschwundenen. Die Amerikanerin Rachel misst immer wieder besorgt den Herzschlag der Anwesenden. Denn die Herzen der Menschen schlagen in Trauer über den Verlust der Angehörigen immer langsamer. Das bringt auch die Planetenrotation langsam zum Stillstand. Menschenherz und Universum sind auf geheimnisvolle Weise verbunden.
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Eine technologische Neuentwicklung soll Abhilfe gegen die Lähmung der Herzen schaffen: Man verrät einer App drei Erinnerungen an den geliebten Menschen und vergisst sie dadurch, bekommt dafür aber die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Ein zweifelhafter Deal, der letztlich scheiten muss. Nguyen verarbeitet hier auch posthumanistische Technologieträume aus dem Silicon Valley, ein digitales Weiterleben nach dem Hirntod, eine Idee, in die gerade Milliardenbeträge investiert werden.
Ein trauriger Plot mit dichter Atmosphäre
„Fraternité“ ist ein modernes Märchen, das mit mehrheitlich theaterfremden Menschen, mitten aus der diversen französischen Gesellschaft entstanden ist. Es erzählt in seinem hyperrealistischen Sozialzentrumsdekor von der aktuellen Unfähigkeit, Verlust und Trauer emotional zu bewältigen.
Während Caroline Guiela Nguyen noch glaubt, dass die Menschheit ein Problem hat, weiß Anne-Cécile Vandalem, dass die Menschheit ein Problem ist: Sie beendet mit der düsteren Waldfabel „Kingdom“ ihre Trilogie über dystopische Menschheitszustände. Der erste Teil „Tristesses“ war 2017 in Berlin zu sehen. Angelehnt an den Dokumentarfilm „Braguino“ erzählt die Belgierin vom Scheitern einer Aussteigerfamilie in der sibirischen Taiga, vom Zerwürfnis mit den Nachbarn und von der Gewalt, die vor allem die Kinder trifft.
Auch hier wird in einem naturalistischen Dekor aus Bäumen, Bach und Hütten ein trauriger Plot erzählt, aber die Regisseurin schafft eine atmosphärische Dichte mit hoher Suggestionskraft, in der jeder Spielrealismus eine symbolische Seite bekommt. Egal ob der Mensch in Mythen, Technik oder die Natur entflieht, er steht sich immer wieder selbst gegenüber als das Tier, das keins sein möchte.