Moderne Zerrissenheit
Das Leben E.T.A. Hoffmanns lässt sich auch als ein gescheitertes beschreiben – obwohl doch der Wahlberliner und Verfasser berühmter Werke wie „Der goldene Topf“, „Das Fräulein von Scuderi“ oder „Meister Floh“ zu den wichtigsten, international einflussreichsten Figuren der deutschen Kulturgeschichte gehört. Seine „Lebensansichten des Katers Murr“ inspirierten noch eine Christa Wolf zu ihren „Neuen Lebensansichten eines Katers“ oder jüngst Michael Köhlmeier zu dem opulenten Katzenroman „Matou“ (in dem Hoffmann höchstselbst einen unvergesslichen Auftritt hat).
Hoffmann aber hätte der Diagnose zugestimmt. Er sah sich vor allem als Musiker, als zutiefst empfindsamer, hoch ambitionierter und bis ins Mark der Romantik verpflichteter Komponist – wobei der Romantik-Begriff seinerzeit erst geprägt und das rationalistisch-mechanistische Zeitalter der Aufklärung gründlich verabschiedet werden musste.
Musik als einzig wahre Kunst
In der Musik lag seine Bestimmung. Sie und nicht die Literatur galt ihm als „einzig wahre Kunst“. Tatsächlich schrieb der 1776 mitten in eine politische und geistige Aufbruchsepoche hineingeborene Spross einer Königsberger Juristenfamilie ein noch heute gespieltes, recht hübsches Harfen-Quintett, teils verschollene Klaviersonaten, Sinfonien, Messen und vieles mehr. Seine Oper „Undine“, von der Aufnahmen existieren, ist eine der ersten romantischen Opern. Carl Maria von Weber lobte das Werk als „eines der geistvollsten, das uns die neuere Zeit geschenkt hat“.
An Beethoven aber reichte Hoffmann nicht heran, auch nicht an Mozart, den er derart verehrte, dass er seinen Vornamen von Ernst Theodor Wilhelm in Ernst Theodor Amadeus änderte. Doch als Komponist konnte er nicht wirklich reüssieren, auch seine kurze Karriere als Kapellmeister in Bamberg war nicht von Erfolg gekrönt.
Glücklicherweise hatte er, ganz nach Familientradition, Jura studiert, und zwar im Königsberg von Immanuel Kant. Für den interessierte sich Hoffmann naturgemäß kein bisschen. Er fand einen Brotjob im preußischen Staatsdienst und wurde schließlich, nach Stationen in Warschau und Posen, Kammergerichtsrat in Berlin, seiner literarischen Hauptwirkungsstätte. Hier umgab er sich mit Persönlichkeiten wie Ludwig Tieck, dem Undine-Schöpfer de La Motte Fouqué oder Chamisso, dessen „Peter Schlemihl“ auch durch seine Texte geistert.
Mit ihnen durchzechte er die Nächte bei „Lutter & Wegner“ am Gendarmenmarkt, wo er wohnte. Die Zeitspanne, die er dem Schreiben widmete, ist, gemessen am gewaltigen Umfang seines schriftstellerischen Opus’, eher gering und umfasst nur wenige Jahre bis zu seinem Tod.
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Auch Hoffmanns Schreiben war ganz wesentlich der Musik gewidmet. Man denke nur an seinen „Ritter Gluck“, eine mysteriöse Reinkarnation des Frühklassikers Christoph Willibald Gluck. Oder an die „Kreisleriana“ (in den „Fantasiestücken in Callots Manier“), wo erstmals Hoffmanns Alter Ego auftritt, der Kapellmeister Johannes Kreisler.
Dieser Kreisler, den Hoffmann als ebenfalls begnadeter Zeichner und Karikaturist mit Bleistift „im Wahnsinn“ tanzend verewigte, ist nicht nur eine der wichtigsten Künstlerfiguren der Romantik. Nein, er weist weit über sie hinaus in die Moderne.
Märchen vom Nussknacker
Zunächst war es Robert Schumann, der mit seinen „Nacht“- und „Fantasiestücken“ und nicht zuletzt dem Klavier-Zyklus „Kreisleriana“ direkt auf Hoffmann Bezug nahm. Zugespitzt ließe sich Schumann als Vollender dessen bezeichnen, was sich der Verfasser des Märchens vom „Nussknacker und Mausekönig“ musikalisch erträumte, aber nie erreichte.
Kreisler nun, Anti-Held auch des spielerisch verschachtelten, die Postmoderne antizipierenden Experimentalromans „Kater Murr“, ist das magische Zentrum von Hoffmanns Werk. Der bizarre Kapellmeister ist gleichzeitig Projektion und Vision und hält Kontakt zu einer höheren, fantastischen Welt, in der es für philisterhafte Vernünftler im Diesseits keinen Platz gibt.
Hier kommen Gegensatzpaare wie Tag und Nacht, Vernunft und Wahnsinn, Bürgerlichkeit und Künstlertum zum Tragen. Kreisler steht für eine moderne Zerrissenheit, wobei diese einen Kern voraussetzt, ein substanzielles Inneres, das sich überhaupt zerreißen lässt.
Das Romantische ist stets auch Fundamentalkritik an dem allzu trocken-profanen Vernunftglauben des Siècle des Lumières, das Hoffmann ironisch-satirisch und unter verschwenderisch-virtuosem Einsatz von Spuk-, Krimi- und Fantasy-Elementen aufs Korn nimmt. Zum Beispiel im „Magnetiseur“. Oder im „Sandmann“ von 1816, der um die Erschaffung künstlicher Menschen kreist (Dieses Motiv verwendet kurz darauf Mary Shelley im „Frankenstein“).
Vorläufer von Dostojewski
Oder in den „Elixieren des Teufels“, einem fiebrigen, Dostojewski vorwegnehmenden Schauer- und Doppelgängerroman, der sich an Matthew G. Lewis’ Gothic-Klassiker „Der Mönch“ anlehnt. Rüdiger Safranski nennt Hoffmann in seiner Biografie treffend einen „skeptischen Phantasten“.
Etliche seiner Freunde und Zeitgenossen sahen auf Hoffmann herab. Sie hielten den „Gespenster-Hoffmann“ als bloß modischen Verfasser seichter Genrekost – dabei kann das in dem Erzählband „Die Serapionsbrüder“ beschworene „serapiontische Prinzip“ als avantgardistisch gelten. Auch Goethe hegte eine große Abneigung und sprach von „krankhaften Verirrungen“. Allerdings ließ der Weltliteraturverfechter an kaum einem Romantiker ein gutes Haar.
Bis ins 20. Jahrhundert wurde Hoffmann von der Literaturwissenschaft stiefmütterlich behandelt. Schriftsteller wie Gogol, Poe oder Kafka aber ließen ihn auf sich wirken. Walter Benjamin, ein Hoffmann-Kenner, bezeichnete ihn als „Vater des Berliner Romans“. Noch immer wird er viel und begeistert gelesen, heutzutage keine Selbstverständlichkeit für einen Klassiker. Mag er sich auch für gescheitert gehalten haben – E.T.A. Hoffmann war schlichtweg ein Genie.