Ich ist ein Krokodil
Für ihre Erfindungen hat die namenlose Erzählerin ein markttaugliches, leicht konsumierbares Format gewählt: Fortsetzungsstories für ein Frauenmagazin. Und damit das Gegenteil des Buchs, in dem sie in Erscheinung tritt: Anna Baars Roman „Nil“ ist trotz seines bescheidenen Umfangs große Literatur – alles andere als leicht zugänglich, dafür eine vielschichtige, beglückende Herausforderung.
Man mag sich allerdings fragen, ob dieser Trip durchs Zerrspiegelkabinett des Unterbewusstseins ein „Roman“ ist. Zwar lassen sich verschiedene Figuren und wiederkehrende Settings ausmachen, doch diese schieben sich schon bald derart ineinander, dass man nicht mehr weiß, wie viele Personen hier eigentlich sprechen, oder ob eine einzige Person sich mehrere Leben überstreift – wie es Geschichtenerzähler: innen nun einmal gerne tun.
Sie werfen sich ein Verbrechen vor
Es gibt eine Verhörszene, in der ein „Wärter“ und eine „Kamerafrau“ dem Erzähl-Ich vorwerfen, schreibend ein Verbrechen begangen zu haben.
Es gibt einen, der spurlos in einer Fotokabine verschwindet. Es gibt Erinnerungen an eine Kindheit, die nebulös und gefühlskalt daherkommt, durchsetzt mit traumatischen Fragmenten, von denen offen bleibt, ob sie der Imagination oder der Erinnerung der Erzählperson entspringen: Da werden Fehlgeburten in Honiggläsern aufbewahrt oder ein Geschwistermord angedeutet.
Und es gibt einen Steinbruch am Waldrand, Schauplatz von Mutproben, von Mord oder Selbstmord. Bezeichnenderweise ist dieser Steinbruch auch der Ort, den die Ich-Erzählerin sich weigert (gedanklich) zu betreten. Der Chefredakteur des Frauenmagazins schlug ihr vor, eben dort den Hauptfiguren ihrer Fortsetzungsstory den Garaus zu machen. Sie schafft es nicht, denn: „Mit einem Mal schien es unmöglich, zu einem Schluss zu kommen, ohne selbst zugrunde zu gehen.“
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So ist „Nil“ eine raffinierte, teils makabre, teils sozialkritische, teils ironische Meta-Reflexion über das Schreiben, über das Wünschen und das Erfinden. Bereits als Kind befällt das Erzähl-Ich eine große Angst vor der Macht der eigenen Fantasie: Peinigende Schuldgefühle suchen es heim, wenn etwa die Rachefantasien, die es in seinem Album notiert, so oder ähnlich in der Realität eintreffen. „Man kann nicht so tun, als sei das Erfundene harmlos“, ist die schreckliche Erkenntnis, die es mit ins Erwachsenalter nimmt.
Baar, die 1973 in Zagreb geboren wurde und in Wien und Klagenfurt lebt, montiert ihr literarisches Vexierspiel auf eine Weise, die an David Lynchs Kultfilme „Mulholland Drive“ oder „Lost Highway“ erinnert. Immer, wenn etwas Traumatisches geschieht, kippt die Geschichte.
Oder, anders gesagt: Das Hirn erschafft sich Deckerinnerungen, die eine verfremdete Erzählung fortschreiben. Ähnliches geschieht in Träumen, in denen Tagesreste verzerrte Spuren hinterlassen. Oder in Texten wie diesem, in dem sich autobiographische Motive der Autorin/Erzählerin in abgewandelter Form wiederfinden.
[Anna Baar: Nil. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 148 Seiten, 20 €.]
Allerdings ist Baars Prosastück trotz gruseliger Elemente und existenzialistischer Überlegungen nicht so grunddüster wie Lynchs Filme. Vielmehr versetzt uns die Autorin in die blühende Fantasie eines Kindes, in der sich Bedrohliches und Spielerisches bisweilen bis zur Unkenntlichkeit mischen.
So fragt man sich, ob es sich bei dem „Wärter“ und der „Kamerafrau“ aus der Verhörszene um die Eltern der Erzählerin handeln könnte. Schließlich wird an anderer Stelle der Vater als Wärter eines Zoos vorgestellt, während die Mutter akribisch das Familienleben mit ihrem Camcorder festhält.
Das Krokodil als bedrohliches Motiv
Ein weiteres bedrohlich-verspieltes Motiv ist das Krokodil. Zunächst ist es das „einsame Krokodil“ im „Tiergefängnis“ des Vaters, das das kindliche Erzähl-Ich als Identifikationsfigur heranzieht. Später taucht es in Form eines Schwimmtiers auf, das die Mutter mit einem Messer zersticht.
Und schließlich erneut in einer kafkaesken Verwandlungssequenz. Hier allerdings handelt es sich nicht mehr um die Erinnerungen der Geschichtenerzählerin, sondern um die eines gewissen Sobek. Oder war die Ich-Erzählerin die ganze Zeit ein Ich-Erzähler? Sobeks Kindheitserinnerungen überschneiden sich auffällig mit denen der namenlosen Erfinderin.
Ein Sympathieträger ist dieser Sobek keinesfalls, eher ein verschrobener Einzelgänger, der sich pyromanischen Gelüsten sowie allerlei merkwürdigen Rauschzuständen mit Hilfe von Milchzucker, Kalk und Erde hingibt und das Draußen weitgehend meidet: „Er schaut nur zum Bildschirm hinaus, sieht Tiere, Menschen und Monster an sich vorüberziehen.“ Und hofft dabei doch stets auf sein „zweites Ich“, das ihn von sich selbst erlöst.
Ist Ich ein unheimlicher Doppelgänger?
Ein weiteres großes Thema von Baar: Ist das ersehnte zweite Ich „ein wahrer Freund“, wie es im vorangestellten Cicero-Zitat heißt? Oder ein unheimlicher Doppelgänger, den es zu beseitigen gilt? Die immer kleinteiligere Verschachtelung der Identitäten scheint hinauszulaufen auf Rimbauds berühmte Formel „Ich ist ein Anderer“, eine Transzendenz des Selbst, die ekstatisch und entsetzlich zugleich ist. In ihr steckt aber auch die defensive Äußerung des ertappten Kindes („Ich war es nicht.“), mit der das Buch beginnt.
Baar geht diesen profunden Fragen lokcer nach, in einer rhythmischen, stellenweise lyrischen Prosa, die manchmal etwas altertümlich wirkt und zugleich gespickt ist mit Überwachungskameras, Bildschirmen und Videospielen. Was eine weitere Lesart erlaubt: Vielleicht ist das sich permanent wandelnde Ich auch bloß ein Avatar in virtuellen Welten, der sich mit erstaunlicher Resilienz von Ebene zu Ebene bewegt. In diesem Sinne funktioniert „Nil“ wie ein Loop, der sich immer wieder von vorne beginnen lässt – mit stets neuem, unvorhersehbarem Ausgang des Geschehens.