Buch zur East Side Gallery: Mauer-Geschichten hinter kunterbunter Fassade
Der erste Versuch, die Mauer an der Mühlenstraße in Friedrichshain mittels Farbe aufzuhübschen, erfolgte keineswegs erst 1990, als 118 Künstlerinnen und Künstler aus 21 Ländern die überflüssig gewordene Grenzbefestigung zur East Side Gallery verwandelten. „Mehr Farbe ins Stadtbild“, das sagte man sich bereits 1977 im Ministerium für Nationale Verteidigung der grauen DDR.
Gerade war die Mühlenstraße Teil der „Protokollstrecke“ geworden, auf der Staatsgäste vom Flughafen Schönefeld zu den innerstädtischen Stätten der Macht chauffiert wurden. Denen sollte sich selbst die Mauer als „ansehnlich“ präsentieren, man hatte dort eigens Segmente der „Grenzmauer 75“ mit ihrer glatteren Oberfläche hingestellt, wie sie sonst nur die West-Berliner zu sehen bekamen. Aber ginge es nicht noch hübscher?
Schon zu DDR-Zeiten dachte man an Farbe auf der Mauer
Und so erhielt die dem Westen zugewandte Rückseite eine geheime, den eigenen Bürgern unsichtbare Probebemalung: langgezogene bunte Rechtecke auf farbigem Grund, Himmelblau auf Ocker, Gelb auf Blau, sogar Rosa wurde erwogen. Schade, dass man das Vorhaben fallen ließ.
Obwohl die oft gepriesene East Side Gallery längst eines der von Touristen unbedingt aufzusuchenden Highlights der einst geteilten Stadt ist, zudem ein offizielles Baudenkmal, verbergen sich hinter der kunterbunten Fassade doch noch immer wenig bis unbekannte oder schon wieder vergessene Geschichten, spannende, im Fall der verworfenen Kolorierung fast komische Details aus den Jahrzehnten, als der Riss durch Berlin immer breiter, dann schmaler wurde, bis er ganz zu verschwinden schien, jedenfalls in den Augen auswärtiger Besucher.
Angesichts des blitzblanken neuen Stadtteils, der rund um die heutige Mercedes Benz Arena entstand, ist es ja auch kaum noch vorstellbar, dass von 1991 bis 1996 auf der Brache zwischen Mauer und Spree eine Wagenburg stand, in der die Menschen „wie auf einer Insel lebten“, so erinnert sich ihr Fotograf und Dokumentarist Ralf Marsault. Abgelöst wurde die Burg durch Strandbars. Zwischen ihnen und den vielen nahen Clubs pilgerte das Publikum hin- und her, bis die Investoren kamen und der einstige Todesstreifen begehrtes Bauland wurde. Teilweise musste den Bauherren sogar die Mauer weichen.
Erst Wagenburg, dann Standbars und schließlich Wohnungen
Dies sind nur einige Details aus dem reich illustrierten Buch „Die East Side Gallery. Der Ort. Die Geschichten. Die Ausstellung.“, geschrieben von Anna von Arnim-Rosenthal, Leiterin der seit 2018 der Stiftung Berliner Mauer zugeordneten East Side Gallery, und Juliane Haubold-Stolle, Kuratorin der dort kürzlich eröffneten Open-air-Schau. Den Kern dieser, wenn man so will, Ausstellung zur Ausstellung, bilden 15 Quadersteine aus Spiegelglas und an den Hauptzugängen drei rote, dem „antifaschistischen Bollwerk“ nachempfundene „Mauerwinkel“ aus Aluminium, auf denen die vielschichtige Geschichte des Ortes erzählt wird.
Die wird auch in dem Buch, das mehr Begleitpublikation als Ausstellungskatalog ist, facettenreich widergespiegelt. Im Mittelpunkt stehen erwartungsgemäß die Werke der „längsten Open-Air-Galerie der Welt“ samt Angaben zu den Künstlerinnen und Künstlern, die Bilderschau zu Blöcken halbwegs thematisch geordnet. Fünf der im Jahr nach dem Mauerfall bemalten Flächen sind heute weiß übertüncht, Zeugnis einer künstlerischen Verweigerung gegen die Sanierung von 2009, die teilweise einer Neuschöpfung gleichkam.
Ein Trabi bleibt ein Trabi? Im Prinzip schon, dennoch irritiert es schon ein wenig, vergleicht man im Buch die beiden Versionen des berühmten Bildes von Birgit Kinder, das eine „Rennpappe“ beim Mauerdurchbruch zeigt. Wirkt der Wagen auf dem Originalgemälde nicht viel authentischer, in der runderneuerten Version dagegen wie frischlackiert, glänzender noch als er in Zwickau vom Band rollte?
An der East Side Gallery erschossene oder ertrunkene Flüchtlinge
Doch geht es in dem Buch um weit mehr als solche ins Kunsthistorische zielenden Fragen.Vergessen wurden weder die Mauertoten, die im Bereich der East Side Gallery erschossenen oder ertrunkenen Flüchtlinge auf der Ost-, die beim Spielen ins Wasser gefallenen Kinder auf der Westseite, deren Rettung nicht möglich war: Die Spree gehörte dort in ganzer Breite zu Ost-Berlin, bewacht von schießwütigen DDR-Grenzern. Auf Bitten, helfen zu dürfen, reagierten die nicht mal, wie ein ehemaliger West-Berliner Feuerwehrmann, einer der vielen im Buch zitierten Zeitzeugen, sich erinnert.
Auch wird von den Autorinnen der kunsthistorische Bogen zurück zu den Mauerbildern und Graffiti-Werken geschlagen, die es auf der West-Seite der Mauer gerade in Kreuzberg schon lange vor deren Fall gab. Eine Kreativität, die sich von den Grenztruppen nicht bremsen ließ und nach deren Abzug auch vor der East Side Gallery nicht halt machte. Die Probebemalung der Mauerrückseite war längst übertüncht, die Farbe dem DDR-Grau gewichen, das zu den Nachwendezeiten nun wirklich nicht mehr passte. Für die Graffitiszene ein weites Feld, um sich auszutoben.
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