Uraufführung von Sivan Ben Yishai: „Bühnenbeschimpfung“ am Gorki-Theater
Die „Bühnenbeschimpfung“ im Berliner Maxim Theater Gorki beginnt mit einer Verbeugungsorgie. (Sachkundige Theaterfans gehen natürlich davon aus, dass hier gerade ein moralisch besonders wertvolles Stück aufgeführt wurde.) Und nun drängt sich ein applaussüchtiges Ensemblemitglied nach dem anderen vor und versucht, ausgerechnet dasjenige Schauspieler-Stereotyp besonders stilecht zu verkörpern, das auf Werte am lautesten pfeift: die „Rampensau“.
Lindy Larsson hat sich eine raumgreifende Armchoreografie ausgedacht, um konkurrierende Kolleginnen in die zweite Reihe abzudrängen. Vidina Popov nutzt einen vom Souffleur gereichten Blumenstrauß zur effektiven Gesichtsverdeckung ihres Nachbarn. Man wirft aufgekratzt Luftküsse ins Parkett, dazu läuft Musik vom Band und Applaus aus der Konserve.
Ja: Das Theater will an diesem Abend über sich selbst sprechen. Aber eben nicht in Form jener berüchtigten Nabelschau, die ihm sowieso ständig (und durchaus nicht immer zu unrecht) vorgeworfen wird. Sondern eigentlich soll es – im Gegenteil – gerade um die radikalstmögliche Nabelschau-Kritik gehen.
Lauter Zeigefinger
Wie kann es eigentlich sein, dass man auf der Bühne ständig den macht-, patriarchats-, kapitalismus-, gesellschafts- undsoweiter-kritischen Zeigefinger schwingt, während man sich backstage selbst unfair bezahlen, bis zur Burnoutgefährdung auspressen und von einem egomanischen Intendanten herumkommandieren lässt? „Buuhs für das Gesamtsystem! Juhus für das Kultursystem!“, benennt der Text eine bewährte Bühnenregel.
Practice what you preach – praktiziere, was du predigest, hält dessen Autorin Sivan Ben Yishai nun dagegen, eine der renommiertesten gegenwärtigen Theaterautorinnen, die 2022 den Mülheimer Dramatikpreises gewann. Wohlfeile Nestbeschmutzung liegt der 1978 in Israel geborenen Künstlerin dabei fern; es geht hier um einen Rettungsversuch aus innigster Verbundenheit.
„Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin“, zitiert Ben Yishai gleich auf den ersten Textseiten Roland Barthes. Und dass sie mit dem Titel „Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)“ auf eine andere dramatische Theaterrevolution rekurriert, nämlich auf Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ aus dem Jahr 1966, liegt auf der Hand.
Zu Beginn ihres Textes, gewissermaßen als Regieanweisung, beschreibt Ben Yishai eine – so paradox es klingt – gute alte Erneuerungstradition: In Japan wird seit 690 alle zwanzig Jahre der große Shintō-Schrein Ise-jingū vollständig ab- und anschließend neu aufgebaut. So kann man als wertvoll Erachtetes übernehmen und überlebte Praktiken oder schlechte Routinen abstoßen.
Hypnotisiert am Telefon
Sebastian Nübling, der Uraufführungsregisseur der „Bühnenbeschimpfung“ im Gorki, verzichtet auf diesen Verweis und reichert seine Inszenierung mit vielen Branchen-Anekdoten und Höchstenergie-Improvisationen an. Mehmet Yilmaz erklettert von der Rampe aus den Zuschauersaal und lässt dort in einem tragikomischen Monolog seine Karriere Revue passieren – vom freien Schauspieler, der wie hypnotisiert vorm Telefon sitzt, zum Ensemblemitglied in Festanstellung, der mittlerweile aus sämtlichen Sozialkontexten herausgefallen ist, weil er immer auf der Bühne steht, wenn die Freunde Geburtstag oder Silvester feiern – und zwar vorzugsweise in stummen Nebenrollen.
Vidina Popov demonstriert in einem hinreißenden Hochgeschwindigkeitsslapstick, in wie vielen Varianten man die Vokabel „Skript“ über die Rampe transportieren und also Null-Inhalt in multiple Form packen kann. Und Aysima Ergün akzeptiert noch nicht mal dann, dass ihr Text zu Ende ist, als der Souffleur längst verzweifelt das Weite gesucht hat.
Vieles an diesem Abend ist amüsant, unterhaltsam und großartig gespielt – Weniges indes in seinem Erkenntniswert wirklich neu. Allerdings schwingt hier in jeder Szene ein sehr konkreter Kontext mit: Die Machtmissbrauchsvorwürfe, die im Frühjahr 2021 gegen Shermin Langhoff, die Intendantin des Maxim Gorki Theaters, öffentlich wurden – und die Ben Yishai einmal direkt thematisiert: Kritik gehöre doch hier, am postmigrantischen Gorki, wo man einst angetreten war als die fairere, transparentere, hierarchiefreiere, kurz: die „bessere Institution“, quasi zur DNA des Hauses.
Aber – hier bringen Nübling und das Gorki-Ensemble die Causa nicht nur am eigenen Theater großartig auf den Punkt – bei dieser Textstelle verschwindet man lieber von der Bühne. Zurück bleibt einzig ein von Aysima Ergün wunderbar gespielter Vermeidungscharakter: Sie könne dazu gar nichts sagen, die sei ja damals noch nicht am Haus gewesen, performt Ergün die Ausweichbewegung in Endlosschleife. Da tut der Abend tatsächlich auch mal kurz weh.
Nächste Vorstellungen am 25. Dezember sowie am 6. und 19. Januar
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