The Weeknd schaut in seine Abgründe

Zum ersten Mal einen Film im Kino zu sehen, ist für jedes Kind ein besonderes, unvergessliches Erlebnis. Abel Tesfaye war vier Jahre alt, als seine Mutter ihn 1994 in die Actionkomödie „Die Maske“ mitnahm, in der Jim Carrey sich in einen grünköpfigen, ziemlich durchgeknallten Cartoon-Charakter verwandelt.

„Es hat mich umgehauen“, hat Tesfay, besser bekannt als The Weeknd, in einem „Variety“-Interview über diese früh Filmerfahrung erzählt. Sie scheint bis heute fortzuwirken, was sein in jüngster Zeit zu beobachtendes Spiel mit Masken und Gesichtsverfremdungen nahe legen. So zeigte sich der kanadische Popstar etwa bei einer Preisverleihung mit einem Kopfverband und ließ es später auf Fotos so aussehen, als habe er eine massive Gesichtsoperation hinter sich.

Frühstück mit Jim Carrey

Auf dem Coverfoto seines gerade erschienen Albums „Dawn FM“ präsentiert er sich nun als alter Mann mit Falten, ergrautem Haar und Bart. Cartoon-Superkräfte hat dieser traurig dreinblickende Typ sicher nicht – dafür aber Jim Carrey an seiner Seite. Die beiden Stars, die aus der gleichen Gegend von Toronto stammen, sind seit einigen Jahren befreundet und wohnen inzwischen – zufälligerweise – in der gleichen Gegend von Los Angeles.

Sie können einander von ihren Balkonen aus zuwinken. Das tat Carrey zum Beispiel an The Weeknds 30. Geburtstag. Er hatte sogar Ballons dabei und lud den Sänger anschließend zum Frühstück ein.

Jetzt hat The Weeknd den Schauspieler zu sich eingeladen: Jim Carrey ist der Sprecher der imaginären Radiostation, die seinem neuen Album den Titel gibt. Der Komiker taucht immer wieder auf, auch gleich zu Beginn: „You are now listening to 103.5 Dawn FM. You’ve been in the dark for way too long. It’s time to walk into the light“, begrüßt er die Hörer*innen.

Der versprochene „Spaziergang ins Licht“ sind die kommenden rund 50 Minuten dann allerdings nicht, denn Schmerzensmann The Weeknd bleibt bei seinen melancholischen bis finsteren Themen, allen voran der unerfüllten Liebe und den gefährlichen Sexspielen.

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Dass der Sänger offenbar auf Atemreduktion beim Sex steht, hat bereits die erste Single „Take My Breath“ gezeigt, bei der auch das Video (87 Millionen Klicks auf Youtube) deutliche Anspielungen auf Strangulation und Sauerstoffmangel enthält. Ein starker, irgendwo zwischen Giorgio Moroder und Daft Punk angesiedelter Song, der allerdings mitten in einer Pandemie, in der Hunderttausende um Atem ringen, nicht gerade von ausgeprägtem Feingefühl zeugt. Zumal während einer Instrumentalpassage der zwei Minuten längeren Albumversion Laute zu hören sind, die einem gedämpften menschlichen Röcheln ähneln.

Um dieselbe Praktik geht es zum Auftakt der Platte sofort nochmal in „Gasoline“, wobei diesmal die Frau vom Lyrischen Ich gewürgt wird und nicht umgekehrt: „I wrap my hands around your neck/ You love it when I always squeeze“, singt The Weeknd mit tiefer gepitcher Stimme zu einem schnell pulsenden Beat und schiebt gleich noch eine Nietzsche-Paraphrase hinterher: „I’m staring into the abyss/ I’m lookin’ at myself again“.

Für den noch abgründigeren Refrain wechselt der 31-Jährige in seinen typischen Falsettgesang, um seine Geliebte darum zu bitten, ihn im Falle des Todes einfach in die Laken zu wickeln und mit Benzin übergießen. Ob sie ihn auch anzünden soll, sagt er nicht, aber beim Hören sieht man ohnehin schon ein Bett in Flammen stehen.

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Danach muss man erstmal tief Luft holen, wobei „How Do I Make You Love Me“ mit seiner bittersüßen Refrainmelodie eine große Hilfe ist. Die Swedish House Mafia und der schwedische Superproduzent Max Martin waren an dem Stück beteiligt. Die Handschrift von Martin, mit dem The Weeknd schon mehrfach zusammengearbeitet hat, durchzieht das gesamte Album, bei dem außerdem Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never als Produzent mitgewirkt hat.

Das Klangbild ist wie schon beim Vorgänger „After Hours“ stark vom Synth-Pop der Achtziger geprägt, auch etwas Neunziger-R’n’B spielt hinein, was diesmal aber überzeugender zusammenfließt als vor knapp zwei Jahren. Damals lenkte das Strahlen des Megahits „Blinding Lights“ davon ab, dass diese Platte doch einige Längen und Füller enthielt.

Das ist auf „Dawn FM“ kaum einmal der Fall. Zwar nerven Jim Carreys Durchsagen auf die Dauer ein wenig und ein Über-Song wie „Blinding Lights“ ist auch nicht dabei, dafür aber viele, die packend sind und einen Sog erzeugen. Etwa die Uptempo-Nummer „Sacrifice“, die von einem geloopten Zickzack-Gitarrenmotiv und einem Boom-Tschak-Beat angetrieben wird, was sofort in die Beine geht (und wieder an Daft Punk erinnert). Oder „Don’t Break My Heart“, bei dem eine hektisch tackernde Drummachine und sanfte Synthie-Harmonien ein reizvolles Spannungsfeld aufbauen, das The Weekends Stimme mit großer Eleganz ausnutzt.

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Sein Gesang ist immer wieder mit Michael Jackson verglichen worden – und auch bei seinem neuen Werk drängt der Kanadier seinen Hörer*innen die Verbindung zum 2009 verstorbenen King of Pop geradezu auf. So hat er den Musiker und Produzenten Quincy Jones – mit ihm nahm Jackson seine erfolgreichsten Alben auf – für ein Interlude gewonnen, in dem der mittlerweile 88-Jährige berichtet, wie das Aufwachsen ohne Mutter seine späteren Beziehungen zu Frauen beeinflusst hat. Wenn er ihnen zu nahe kam, trennte er sich, was teils aus Rache, teils aus Angst geschehen sei. Mustergültige Selbsterkenntnis in nicht einmal zwei Minuten.

The Weeknd strebt offenbar Ähnliches an, möchte wie Michael Jackson der Schüler von Quincy Jones sein. Das zeigt der sich anschließende Song „Out Of Time“ , in dessen erster Strophe The Weeknd der Stimmlage und Phrasierung von Jackson schon fast beängstigend nah kommt. Er zeigt sich voller Reue gegenüber einer Frau, beteuert sich bessern zu wollen – Themen, die ihn schon seit „After Hours“ beschäftigt. Er singt: „The last few months, I’ve been workin’ on me, baby/ There’s so much trauma in my life/ I’ve been so cold to the ones who loved me, baby/ I look back now and I realize“.

Vielleicht kann Quincy Jones ihm mal die Telefonnummer seines Therapeuten geben. Denn meist halten die guten Vorsätze nicht lange, wofür „Best Friends“ ein gutes Beispiel ist. Da beteuert er erst, wie gut es ist, dass er die toxische Verbindung zu einer Frau beendet und jetzt mit ihr befreundet ist. Doch im Refrain bringt der Sex dann wieder alles durcheinander.

Sympathisch kommt The Weeknd kaum einmal rüber, und trotzdem zieht er auf „Dawn FM“ durch seinen engagierten, schlüssig produzierten Auftritt in seinen Bann – und setzt einen ersten Lichtpunkt im neuen Popjahr.