„Trenque Lauquen“ im Kino: Die Befreiung liegt im Verschwinden
Vielleicht verteidigen die größten Verfechter das Kino auch deswegen mit religiöser Inbrunst, weil Religion und Kino nicht zuletzt eine Frage des Glaubens sind. Die Theorie des suspension of disbelief hat in der Kunst des bewegten Bildes von Anfang an – beginnend mit den Trickfilmen des Illusionisten Georges Méliès – so blendend funktioniert, weil das visuelle Medium als Beweismittel selbstevident erschien. Unsere „willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“ (mit anderen Worten: das Vertrauen in die Bilder) wird im Zeitalter von Künstlicher Intelligenz immer öfter Fragen aufwerfen. Umso wichtiger ist es, sich wenigstens im Kino noch auf Wunder einzulassen.
Dieses Wunder lässt in der argentinisch-deutschen Ko-Produktion „Trenque Lauquen“ sehr lange auf sich warten. Da sind bereits über zwei Stunden in Laura Citarellas Film verstrichen, er hat Jahrzehnte übersprungen und mehrfach die Hauptfiguren gewechselt. Andersherum könnte man auch sagen, dass die bloße Existenz von „Trenque Lauquen“ unter den heutigen Produktionsbedingungen des Weltkinos schon ein kleines Wunder ist.
Zu verdanken ist dies unter anderem dem aufopferungsvollen deutschen Verleih Grandfilm, der schon den von Citarella produzierten, über 13-stündigen Anthologiefilm „La Flor“ vor vier Jahren in die Kinos brachte und nun selbst als Ko-Produzent fungiert.
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Beide Filme sind schöne Beispiele dafür, was passiert, wenn Menschen zusammenkommen, die sich die Lust am und den Glauben ans Erzählen im Kino – und eben in nicht in Streamingserien – bewahrt haben. Citarella ist Teil des Kollektivs El Pampero Cine, und in diesem altmodischen Sinn des kollektiven Filmemachens muss man auch die Entstehungsgeschichte und Arbeitsteiligkeit von „Trenque Lauquen“ verstehen. Alles befindet sich im Fluss: Die Regisseurin übernimmt eine der Hauptrolle, eine Hauptdarstellerin hat mit der Regisseurin das Drehbuch geschrieben, die Figuren tragen dieselben Namen wie die Darstellerinnen und Darsteller.
Suchbewegungen führen zu Metamorphosen
Der Film folgt mehreren Suchbewegungen, die sich an verschiedenen Punkten, wie auch zu verschiedenen Zeiten überschneiden. Aber der Pfad dieser Suche, um noch eine andere religionsphilosophische Binsenweisheit zu zitieren, ist das Ziel in „Trenque Lauquen“, der sich wieder und wieder häutet, ohne dabei zu einem Kern vorstoßen zu wollen. Stattdessen durchläuft er in fast viereinhalb Stunden Metamorphosen.
Im Zentrum von „Trenque Lauquen“ steht ein Rätsel. Die Botanikerin Laura, gespielt von der Ko-Autorin Laura Paredes, stößt in der tiefsten argentinischen Pampa an dem titelgebenden Ort bei ihrer Suche nach nicht-klassifizierten Pflanzenarten auf eine heimliche Korrespondenz aus den 1960er Jahren. Die Liebesbriefe zwischen der Lehrerin Carmen Zuna (gespielt von der Regisseurin) und einem reichen Großgrundbesitzer sind versteckt in Hunderten von Büchern aus der örtlichen Bibliothek: eine Borges-artige Schnitzeljagd auf den Spuren einer Leidenschaft, die gleichzeitig Begehren bei den Suchenden weckt.
Laura und ihr Helfer Ezequiel (Ezequiel Pierri), ein liebestrunkener Angestellter der Stadtverwaltung, der als ihr Chauffeur und Komplize eine Doppelrolle übernimmt, lassen sich von den erotischen Botschaften aus der Vergangenheit anstecken. Irgendwann ist die Frage, wer diese Carmen war, nur noch ein Vorwand für Laura und Ezequiel, die schon in der Suche (und in den Briefen) Erfüllung finden.
Eine schöne literarische Fantasie ist das, die durch Überblendungen, lebhafte Schuss-Gegenschusss-Montagen und traumhafte Übergänge aber eine kinematografische Qualität besitzt. Die Gefühle der Hauptfiguren sind nicht die einzige Doppelung in „Trenque Lauquen“, die mehrere Jahrzehnte überdauert. Citarella öffnet in zwölf Kapiteln immer neue Geschichten-in-Geschichten, ihr Film folgt einer Art Bewusstseinsstrom – als würde die Lust am Erzählen langsam Überhand nehmen.
Zwölf Kapitel auf zwei Filme verteilt
„Trenque Lauquen“ besteht aus zwei Filmen, die etwa in der Mitte eine Spiegelachse besitzen. Im ersten Film ist Laura gewissermaßen das Objekt der Begehren: Sie ist verschwunden, und zwei ahnungslose verliebte Männer – Ezequiel und ihr älterer Freund Rafael (Rafael Spregelburd) – fahren im Auto durch die Pampa, ihren Spuren folgend. Auf diesen Fahrten fällt irgendwann auch der Schlüsselsatz des Films: „Wer sagt uns eigentlich, dass Laura gefunden werden möchte?“
Im zweiten Film übernimmt Laura dann die Hauptrolle. Auch sie ist einem Rätsel auf der Spur, das sich als Wunder, aber auch nur als Aberglaube der Einheimischen herausstellen könnte. Was hat es mit dem Wesen auf sich, das im Trenque Lauquen, dem kleinen See, der dem Ort seinen Namen gibt, gefunden wurde? Ist es eine Chimäre, ein Kaiman, ein Junge – oder tatsächlich das Ergebnis eines wissenschaftlichen Experiments, das zwei Frauen in ihrem einsamen Haus im Wald hüten? Hierhin führt Laura eine seltene gelbe Blume. Aus der Detektivgeschichte des ersten Films wird eine Mystery-Erzählung; auch die Genres metastasieren in „Trenque Lauquen“.
Ob man sich auf diese wuchernde Erzählung einlassen möchte, hängt ganz davon ab, wie weit man den Wundern im Kino noch vertraut. „Trenque Lauquen“ ist alles andere als ein religiöser Film, aber der Glauben an die Kraft des Erzählens kann nicht schaden bei einer Geschichte, die sich über mehr als vier Stunden wieder und wieder häutet. Darunter zum Vorschein kommt eine Chimäre von einem Film, ein seltenes Exemplar aus dem Reich der Kinomythen.