Erlebnisbericht von den Erdölfeldern Kanadas: „Auch an schlimmen Orten erzählen die Menschen Witze“
Die autobiografische Erzählung „Ducks“ von Kate Beaton (39) wird seit ihrem Erscheinen im vergangenen Jahr in Nordamerika gefeiert. Jetzt erscheint die Graphic Novel, in der die Kanadierin ihre teils traumatischen Erfahrungen auf den Erdölfeldern Albertas verarbeitet hat, als Gemeinschaftsprojekt der Verlage Zwerchfell und Reprodukt auf Deutsch.
Beaton, die aus Cape Breton Island an der kanadischen Ostküste stammt, hat nach dem Studium ab 2005 zwei Jahre lang im Norden Albertas gearbeitet, um den Kredit für ihr Studium abzuzahlen. Ab diesem Freitag ist die Zeichnerin in Deutschland zu Gast und tritt bei mehreren Veranstaltungen in fünf Städten auf, wir haben sie vorab interviewt.
Kate Beaton, Ihr dieser Tage auf Deutsch erscheinendes Buch „Ducks“ ist im vergangenen Jahr auf dem ersten Platz zahlreicher Bestseller- und Bestenlisten gelandet, darunter die Lieblingsbücher des Jahres 2022 von Barack Obama. Es hat mehrere Literatur- und Comicpreise gewonnen und wurde kürzlich auch noch in zwei Kategorien für einen Eisner Award nominiert, die wohl bedeutendste Auszeichnung für nordamerikanische Comics. Zählen Sie noch mit, wie viele Ehrungen Sie inzwischen bekommen haben?
Nein. Aber es ist sehr schön, diese Art von Rückmeldungen zu bekommen. Was für ein Jahr das war! Und wenn man sich auf Obamas Liste wiederfindet, oder auf der Empfehlungsliste des Time-Magazins oder des Radiosender npr, dann ist das ein bisschen wie auf Drogen zu sein.
In welcher Hinsicht?
Wenn man Comics macht, arbeitet man sehr lange für sich allein. Man hofft, dass das, was man da schafft, gut ist. Aber wenn man selbst so lange auf das eigene Werk schaut, kann man das irgendwann nicht mehr einschätzen. Am Schluss zweifelt man dann an seinem eigenen Urteilsvermögen. Man weiß nicht mehr, ob das, was man vermitteln will, auch wirklich rüberkommt. Und dann gibt es ja auch viele Bücher, die wirklich gut waren – aber trotzdem keine große Reaktion in der Öffentlichkeit bekommen haben. Man kann sich also nie sicher sein, ob das, woran man einige Jahre lang hart gearbeitet hat, auch entsprechend wahrgenommen wird.
Ich war noch nie in meinem Leben so einsam wie damals.
Kate Beaton
In Ihrer Graphic Novel „Ducks“ erzählen Sie von den zwei Jahren, in denen Sie ab 2005 nach dem Studium auf den Erdölfeldern im abgelegenen Nordwesten der kanadischen Provinz Alberta gearbeitet haben – als eine der wenigen Frauen in einer rauen, von Männern und dem Raubbau an der Natur dominierten Umgebung. Es ist einerseits eine sehr persönliche Geschichte, die vom harten Alltag der Menschen dort und Ihren teilweise erschütternden Erlebnissen handelt. Dass es so viele begeisterte Reaktionen gab, zeigt aber offenbar, dass Sie eine universell ansprechende Geschichte zu erzählen haben…
Ja, ich bin mir nicht sicher, wann ich mir dessen bewusst wurde. Während ich diese Dinge erlebt habe, habe ich mich vor allem sehr allein gefühlt. Ich war noch nie in meinem Leben so einsam wie damals. Wenn man mir zu der Zeit erzählt hätte, dass ich eines Tages ein Buch über diese Zeit veröffentlichen würde, das so viele Menschen lesen und in dem sie sich wiederfinden würden, hätte ich das nicht geglaubt. Ich war damals so isoliert und abgeschnitten von der Welt. Soziale Medien gab es zu jener Zeit kaum, Facebook war gerade erst in den Anfängen. Ich fühlte mich in meinem Arbeitslager so abgekoppelt von der Welt, als lebte ich auf dem Mond.
Wann wurde Ihnen bewusst, dass Ihre Erfahrungen in Alberta einerseits außergewöhnlich waren, aber sich zugleich andere Menschen darin wiedererkennen?
Wenn ich anderen Leuten von meinem Alltag erzählte, merkte ich, dass vielen die Schilderung einer feindseligen, toxischen Arbeitsumgebung sehr vertraut ist. Insbesondere die Erfahrung, unter der Knute von Menschen zu stehen, die völlig anders als ich sind, die meine Sicherheit und mein Wohlbefinden ignorieren, die mich ausgrenzen. Das sind universelle Erfahrungen. Diese Dinge passieren nicht nur in der Isolation, die ich erlebt habe, sondern ebenso in dicht besiedelten Städten. Eine Leserin sagte mir mal: Die in dem Buch geschilderten Erfahrungen erinnern mich an meine Zeit, als im Baumarkt gearbeitet habe. Man kann im Kapitalismus überall an den Rand gedrängt werden. In dieser Hinsicht ist „Ducks“ auch ein Buch über Kapitalismus und die Macht der Konzerne über die Menschen, die für sie arbeiten.
Ich brauchte Zeit, das alles zu verarbeiten.
Kate Beaton
Wie hat sich aus Ihren persönlichen Erfahrungen eine Geschichte herauskristallisiert, die dann in „Ducks“ ihre endgültige Form als lange Comicerzählung fand?
Ich habe bereits als Studentin regelmäßig Comics für eine Hochschul-Zeitschrift gezeichnet. Und während meiner Arbeit auf den Ölfeldern habe ich ab dem zweiten Jahr Comics für eine alternative Zeitung gezeichnet, in denen ich einige meiner Erfahrungen verarbeitet habe. Aber das war damals noch zu roh, zu ungefiltert, zu nah dran an den alltäglichen Erlebnissen. Ich war ja damals, als ich diesen Job wieder verließ, noch sehr jung, gerade mal 22 oder 23. Manchmal braucht man Distanz, um seine eigenen Gefühle und Gedanken wirklich zu verstehen. Ich habe erst in der Rückschau einen richtigen Zugang zu dem bekommen, was ich damals erlebt habe. Ich brauchte Zeit, das alles zu verarbeiten, über mich selbst als junge Frau nachzudenken und zu erkennen, welche größeren Themen das berührte.
Andererseits kann zu viel Abstand ja auch dazu beitragen, das Erinnerungen verblassen…
Ja, mir war auch klar, dass ich dieses Buch machen musste, bevor ich zu alt bin, um mich zu erinnern. Wenn ich jetzt erst damit anfinge, könnte ich mich an viele Dinge wahrscheinlich nicht mehr erinnern. Ich habe mit dem Schreiben im Jahr 2016 begonnen, damals nahm ich mir ein Jahr Zeit, das alles aufzuschreiben.
Was war, neben Ihren eigenen Erinnerungen, das Material, mit dem Sie dafür arbeiten konnten?
Mir kam zugute, dass ich damals ab 2005 schon einen ziemlich beachtlichen digitalen Fußabdruck interlassen habe. Ich ging durch alle meine alten E-Mails und Chatverläufe. Und ich kontaktierte Menschen, die ich in jener Zeit kannte, und tauschte mich mit ihnen aus. Es war ein umfangreicher Prozess, diese Erinnerungen so gut wie möglich zusammenzufügen.
Wenn Du etwas Traumatisches erlebst, bleibt es ein Leben lang bei Dir.
Kate Beaton
Ein Element, das „Ducks“ auszeichnet, sind die lebensnahen Dialoge und menschlichen Begegnungen, die die Figuren lebendig machen. Wie haben Sie die rekonstruiert?
Vieles davon erinnere ich noch sehr lebendig. Es war eine so intensive Erfahrung, dass ich mich an viel mehr Dinge erinnere als in anderen Phasen meines Lebens. In manchen Szenen habe ich mich daran orientiert, wie Menschen damals zueinander und zu mir sprachen, auch bezüglich des unterschiedlichen regionalen Tonfalls, je nachdem, aus welcher Gegend Kanadas die Menschen stammten. Ich glaube, ich habe einfach ein Ohr für Dialoge. Viele der Leute, die in dem Buch vorkommen, sind immer noch auf Facebook und ich bekomme mit, wie die sich ausdrücken. Und ich habe in vielen E-Mails, die ich damals an Freunde verschickt habe, Unterhaltungen mit anderen Menschen zitiert, weil die teilweise so schräg waren. So nach dem Motto: Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist… Das findet sich jetzt alles in dem Buch wieder.
Sie behandeln in dem Buch ja auch viele traumatische Erfahrungen mit einigen Ihrer Kollegen, von der ständigen Herabwertung als Frau über die nie endenden sexuell konnotierten Belästigungen bis hin zu zwei Vergewaltigungen. Wieweit war es schwierig, diese Erlebnisse öffentlich zu machen – und wieweit kann so ein Umgang damit helfen, sie zu verarbeiten?
Es war beides. Ich habe viele Jahre Therapie hinter mir. Wenn Du etwas Traumatisches erlebst, bleibt es ein Leben lang bei Dir. Und jeder Mensch, der so etwas erlebt hat, weiß, dass es nicht wieder weggeht. Es ist ein Auf und Ab. Es gibt Tage, an denen ist alles okay, und dann andere, an denen es einem nicht gut geht. Und wenn man es in ein Buch aufnimmt und hundertmal überarbeitet, von dem ersten Notizen über die Skizzen bis zu den fertigen Bildfolgen, dann schafft man eine gewisse Distanz zu dem realen Ereignis. Am Ende habe ich es dann nur noch gezeichnet, ohne noch groß darüber nachzudenken, was ich da zeichne.
Es war schwierig, aber es gab für mich keine Alternative.
Kate Beaton
Sie hätten einige besonders schmerzhafte Erinnerungen im Buch auch weglassen können…
Ja, damit hätte ich mir etwas mehr Privatsphäre gegeben. Aber es wäre eine Lüge gewesen. Es hätte zudem meiner Geschichte einen schlechten Dienst erwiesen. Denn genau diese Art von Gewalt ist etwas, über das die Menschen nicht sprechen, wenn sie vom Leben in diesen Siedlungen für Erdölarbeiter sprechen. Wenn ich diese Szene weggelassen hätte, hätte ich zu diesem Schweigen beigetragen. Deswegen musste ich auch davon erzählen. Und sobald diese Entscheidung gefallen war, habe ich dann einfach weitergemacht. Es war schwierig, aber es gab für mich keine Alternative.
„Ducks“ handelt ja auch von anderen großen Themen, von der Zerstörung der Umwelt und der Abhängigkeit der Menschen vom Erdöl über die Diskriminierung und Ausbeutung weniger privilegierter Bevölkerungsgruppen bis hin zu den teilweise unmenschlichen Arbeitsbedingungen im Kapitalismus. Wieweit hatten Sie von Anfang an vor, all dies mit Ihrer eigenen Geschichte in Verbindung zu setzen?
Mir war klar, dass ich all diese Themen ansprechen wollte. Allerdings konnte ich nicht allen gleich gerecht werden. Meine Ausgangslage war ja, dass mein Buch auf meinen eigenen Erfahrungen basiert. Das war eine Beschränkung, aber es war auch hilfreich, weil ich so manche Themen nicht weiter ausführen konnte, auch wenn ich es gewollt hätte.
Manche Sachen, die ich bei meiner Arbeit auf den Erdölfeldern erlebt habe, waren einfach umwerfend komisch, auch wenn ich es gehasst habe, dort zu leben.
Kate Beaton
Trotz all dieser ernsten Themen sind Ihre Erinnerungen zugleich sehr unterhaltsam zu lesen, weil Sie sie auf sehr pointierte Weise und mit einem Humor vermitteln, der angesichts der Härte Ihrer Erlebnisse erstaunlich ist. War es schwierig für Sie, diese leicht wirkenden Elemente in einer ansonsten so ernsten Geschichte einzubauen?
Nein, das war mir von Anfang an sehr wichtig. Und dafür habe ich mich im Austausch mit meinem Verlag sehr eingesetzt. Es ist ein sehr dickes Buch und wenn sie nach Seiten suchten, die gekürzt werden könnten, standen oft die eher humorvollen Szenen zur Diskussion, weil sie nicht direkt der Haupthandlung dienten. Da habe ich dann gesagt: Nein, die müssen drinbleiben, weil sie zeigen, dass es hier um Menschen geht, und die haben viele Facetten. Auch an den schlimmsten Orten der Welt erzählen die Menschen einander Witze. Und sie lockern den Alltag ihrer Umgebung auf, indem sie auch mal albern sind. Das ist die menschliche Natur. Manche Sachen, die ich bei meiner Arbeit auf den Erdölfeldern erlebt habe, waren einfach umwerfend komisch, auch wenn ich es gehasst habe, dort zu leben. Dieselben Menschen, die mich sexistisch behandelt haben, haben mich auch zum Lachen gebracht. Das ist eine komplizierte Gemengelage.
Das Buch kam auf Englisch vor einem Jahr heraus. Wieweit haben frühere Kollegen es gelesen und darauf reagiert?
Ich habe zu fast allen Menschen, deren Daten ich hatte und die noch leben, Kontakt aufgenommen und ihnen gesagt, dass sie in dem Buch vorkommen werden. Die Reaktionen waren durchgehend positiv. Die typische Antwort war: „Ja, so habe ich das auch in Erinnerung.“ Und falls sie schlechte Dinge zu sagen haben, sagen sie die bestimmt nicht zu mir.
Und die Erdölkonzerne, die Ihre Arbeitgeber waren?
Oh, die würden niemals etwas sagen, das sind Angsthasen. Als ich an dem Buch gearbeitet habe, hatte meine Familie tatsächlich Angst, dass die Ölkonzerne mir nachstellen und mich irgendwie dafür bestrafen würden, dass ich über die Arbeitsbedingungen auf den Ölfeldern spreche. So viel Macht haben diese Unternehmen.
Hatten Sie diese Angst auch?
Ja, als ich dort gearbeitet habe. Man durfte keine Fotos vom Arbeitsplatz machen oder Kritik äußern, dann wäre man gefeuert worden. Und als ich meinen Vorgesetzten sagte, dass ich belästigt werde, sagte er nur: Ach, sei still. Aber inzwischen bin ich so ein Medienliebling, dass die sich das nicht trauen würden, gegen mich vorzugehen.
Wieso nicht?
Die wollen ihren Ruf nicht gefährden. Und in der Öffentlichkeit legen sie ja inzwischen auch Lippenbekenntnisse ab, dass ihnen Dinge wir Arbeitsplatzsicherheit, die psychische Gesundheit ihrer Beschäftigten, der Umweltschutz und so weiter wichtig sind. Das hat sich gegenüber meiner Zeit zumindest ein bisschen verbessert, auch wenn da noch vieles im Argen liegt. Die übernehmen zum Beispiel nach wie vor keine Verantwortung dafür, dass Arbeiter als Folge der jahrelangen Arbeit an Krebs erkranken, weil das schwer nachzuweisen ist. Ebenso wenig übernehmen sie Verantwortung für die offensichtliche Vergiftung indigener Bevölkerungsgruppen, die in der Nähe der Erdölfelder leben und deren Wasser und Luft nachweislich durch die Ölförderung belastet sind.
Sie hatten sich schon in den Jahren vor „Ducks“ international einen Namen mit dem Humor-Comicstrip „Hark a Vagrant“ gemacht, in dem Sie historische Ereignisse und Szene aus der Literatur- und Kulturgeschichte auf sehr eigene Weise verarbeitet und kommentiert haben. Ihr Zeichenstil hat sich allerdings seitdem enorm verändert, von einem eher skizzenhaften, hingehuscht wirkenden Look zu einem klaren, aufgeräumten Stil, der zudem durch eine Zusatzfarbe akzentuiert wird. Wieweit hängt das einfach mit einer handwerklichen Weiterentwicklung zusammen, oder war das eine bewusste Entscheidung, weil „Ducks“ eine ganz andere Art von Comic ist?
Ich denke, ich habe meinen Stil so entwickelt, wie er zu dem entsprechenden Werk passt. Ich musste zum Beispiel sicherstellen, dass jede Figur in „Ducks“ gut erkennbar und von den anderen zu unterscheiden ist. Und ich musste sicherstellen, dass das Publikum die Handlung an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten richtig einordnen kann. Ich bin nach wie vor nicht die weltbeste Zeichnerin, aber jeder hat so seine unterschiedlichen Stärken.