Audiowalk China in Wedding: Charlotte Ming erinnert an Kolonialgeschichte
Für die chinesische Journalistin und Autorin Charlotte Ming war es ein Moment höchst widersprüchlicher Gefühle, als sie in Berlin, ihrer neuen Heimatstadt, die Kiautschoustraße in Wedding entdeckte. Aus Jiaozhou, wie die Region auf Chinesisch heißt, kam sie doch her. Auf einmal gab es eine Verbindung nach Hause, nach Tsingtau (chinesisch: Qingdao), wo sie zur Schule ging.
Doch in Berlin erinnert der Straßenname an die Zeit des Kolonialismus, ebenso der nahegelegene Pekingplatz am Kanalufer. Beide Orte wurden 1905 so genannt, kurz nach der brutalen Niederschlagung des „Boxerkrieges“ in China als Erinnerung an die vermeintlichen Heldentaten der kaiserlichen Truppen, die zusammen mit sieben weiteren westlichen Großmächten einmarschiert waren.
Aus Charlotte Mings irritierendem Erlebnis ist ein „antirassistischer Audiowalk zur deutschen Kolonialgeschichte in China“ geworden, an dem sich viele beteiligt haben. Denn nicht nur im Afrikanischen Viertel weiter nördlich im Wedding stößt man sich an den Straßennamen, die an grausame Kolonialakteure des deutschen Heers erinnern.
Koloniale Spuren im Kiez
Dort wurden inzwischen zwei umbenannt und heißen nun nach Protagonisten des Widerstands. Auch im Sprengelviertel gibt es Aktivisten, haben sich bereits vor drei Jahren im Stadtteilzentrum Sprengel-Haus Interessierte zur kolonialen Spurensuche in ihrem Kiez zusammengetan und improvisierte Hinweisschilder platziert.
Im Sprengel-Haus startet an dem kalten Oktobermorgen auch die erste Runde mit Charlotte Mings Audiowalk „Ěrinnern“, der durch die Unterstützung des Bildungsnetzwerks China zustande gekommen ist. Die besondere Schreibweise ist eine Referenz an die Heimat, „Ěr“ heißt Ohr auf Chinesisch. Eine Schulklasse des Bettina-von-Arnim-Gymnasiums nimmt teil, denn der Rundgang richtet sich insbesondere an junge Menschen.
Bei der Premiere sind auch Historiker, Provenienzforscher von den Staatlichen Museen zu Berlin dabei, die ein bundesweites Forschungsprojekt zu Raubkunst in deutschen Museen aus dem „Boxerkrieg“ betreuen. Und natürlich geht Shuyang Song mit, die bei der Station am Ernst-Reuter-Haus, dem Studierendenwohnheim am Sparrplatz, in dem sie wohnt, während des Audiowalks selbst zu Wort kommt und darüber spricht, wie sie sich tolerantes Zusammenleben in Berlin vorstellt.
Dem Audiowalk gelingt es ebenso leichtgängig wie eindringlich in die Geschichte des deutschen Kolonialismus einzuführen und auf seine aktuellen Ausläufer aufmerksam zu machen. Nach der Kiautschou-/ Ecke Samoastraße – Samoa war eine weitere Kolonie des Kaiserreichs – und dem Pekingplatz geht es zum Robert-Koch-Institut.
Das verblüfft zunächst, war doch der Mikrobiologe Robert Koch für seine Forschungen vor allem in den deutschen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent unterwegs. Ein zwischen Bäumen aufgehängter Banner auf der anderen Straßenseite erinnert daran. Das Institut selbst tut sich damit noch schwer.
Covid brachte den Rassismus zutage
Und es gibt noch eine Verbindung: Vom RKI, von dem während Corona viele zum ersten Mal hörten, führt eine direkte Linie zu aktuellem Rassismus, der auf die Kolonialgeschichte zrückgeht. Auf dem Höhepunkt von Covid wurden asiatisch aussehende Menschen auch tätlich angegriffen.
Nicht nur die Boulevard-Medien schürten damals die Ablehnung. Die App des Audiowalks zeigt einen Titel des Magazins „Der Spiegel“ zum Corona-Virus mit der Schlagzeile „Made in China“ in dicken gelben Lettern. Der in der Kolonialzeit populäre Begriff von der „Gelben Gefahr“ wurde als Subtext bedient.
Trotzdem setzen sich weder die Initiatorin des Audiowalks Charlotte Ming noch Hans-Georg Rennert vom Sprengel-Haus für eine Umbenennung der Straßennamen ein, welche auf die wenn auch nur 14 Jahre bestehende Kolonie des Kaiserreichs in China verweisen. Anders als im Afrikanischen Viertel wird hier auch keinen Protagonisten gehuldigt. Informationstafeln des Bezirks zu den historischen Hintergründen aber wären ein Anfang.
Als letzte Station führt der Audiowalk zum Han-West Dumpling Restaurant um die Ecke. Mehr als alles andere fühlen sich viele Chinesen durch das Essen mit ihrer Heimat verbunden.