Eine Insel im Fluss der Klänge
„Lasst mich das mal auf der Oud spielen.“ Maurice Louca legt seine E-Gitarre aus der Hand und greift zur arabischen Laute. Er schaut zu den Bläsern: Sopran-, Alt-, Baritonsaxofon und Tuba. Die Musiker lauschen aufmerksam, während er loszupft. Eine scheinbar eingängige Melodie erklingt, die jedoch mit Sechzehntelnoten als schnellen Pulsschlägen verziert ist und sich polyrhythmisch verschiebt, sodass On- und Off-Beat changieren.
Louca spielt die lange Phrase als Schleife, während seine Mitstreiter an den Blasinstrumenten sichtlich bemüht sind, alle rhythmischen Akzente aufzugreifen. Es dauert einige Minuten, bis sie die Details verinnerlicht haben. Vorbereiten konnten sie sich wenig, bei dieser Probe in einem Tonstudio auf einem Kreuzberger Werkstattgelände sind keine Notenständer zu sehen. Louca spielt den acht Musikerinnen und Musikern seiner Band Elephantine die neuen Kompositionen vor, bis in einem kollaborativen Prozess ein Arrangement um das melodische Material herum entsteht.
Es handelt sich dabei um neue Kompositionen, Louca und sein Ensemble proben nicht nur für den Auftritt beim Berliner Jazzfest am Freitagabend. Die Möglichkeit, alle Mitglieder, die über Europa verstreut leben, für mehrere Tage in derselben Stadt zu haben, will er auch dazu nutzen, um neues Material aufzunehmen. Elephantine nahm als Projekt Gestalt an, als Louca, der in Kairo geboren wurde, das Angebot bekam, mit Fördermitteln ein Album in Schweden aufzunehmen – und sich entschied, Musik für ein zwölfköpfiges Ensemble zu komponieren Eine Herausforderung, wie er sagt.
Das gleichnamige Album erschien 2019 noch unter seinem Namen. Mittlerweile haben sich die Verbindungen innerhalb der Gruppe durch zahlreiche Auftritte intensiviert, wie Louca in einer Pause verrät. Elephantine hat sich zu einem gemeinschaftlichen Projekt entwickelt, in das alle ihre Ideen einbringen können.
Vorliebe für Polyrhythmen
Elephantine ist der Name einer Insel auf dem Nil im Süden des Landes: Nur 1200 Meter lang und 400 Meter breit, sind die altägyptischen Ruinen dort seit 1979 Teil des Weltkulturerbes. Louca evoziert Teile des Mystizismus dieses Ortes durch sein Gitarrenspiel, das, angelehnt an arabische Skalen und Melodien, zwar auf komplexen, zirkulären Linien aufbaut, dabei aber in Dynamik und Ausdrucks stets beständig bleibt, nie in solistische Eskapaden ausbricht und darin stark mit den Bläsern kontrastiert.
Die Bläser greifen die Gitarrenlinien auf und doppeln diese, verlassen sie aber immer wieder auch. So etwa in „One More For The Gutter“, einem Stück aus der Mitte des Albums, das zwar aus mehreren Titeln besteht, jedoch eher als zusammenhängendes Werk aus mehreren Teilen gedacht werden kann. Die Bläser verlassen in „One More For The Gutter“ den Bereich der tonalen Improvisation immer weiter hin zu einem geräuschhaften Ausdruck, einem von Kreischen und wilden Tonkaskaden geprägten Spiel.
Loucas Gitarre geht auf „Elephantine“ immer wieder eine symbiotische Verbindung mit dem Vibrafon ein, die beiden Instrumente befragen sich gegenseitig mit denselben Linien und werfen sich Antworten zu. So etwa auf „The Leper“, dem Auftaktstück des Albums, das auch das stoisch rollende Schlagzeug, im Ensemble gleich doppelt gespielt, mit einem quasi rückwärts dekonstruierten Drumbreak, der die Sampling-Ästhetik auf das Schlagzeug überträgt, ins Zentrum rückt.
„Als ich die Musik schrieb, lernte ich gerade, die Oud zu spielen. Das hatte einen großen Einfluss“, beschreibt Louca den Entstehungsprozess. Das und seine Vorliebe für Polyrhythmen – „die zu mir ganz natürlich kommen“ – machen den Charakter der Musik aus, die zwar oft im 6/8-Takt erscheint, dabei aber durch rhythmische Verschiebungen diesen Takt wieder hinterfragt und gleichzeitig zum Leben erweckt. Louca, der mittlerweile zwischen Kairo und Berlin pendelt, hat eine Vorliebe für experimentelle Ensembles und erkundet auf seinen zahlreichen Projekten ganz unterschiedliche Klangästhetiken zwischen ägyptischer Folklore, elektronischer Klangerzeugung und Jazz. Zählt man Elephantine dazu, sind vier Alben unter seinem Namen erschienen.
Grenzübergreifendes Verständnis von Jazz
Das letzte, „Saet El Hazz (The Luck Hour)“, erst im vergangenen Monat veröffentlicht, ist ähnlich kollaborativ wie die Arbeit mit Elephantine, jedoch von einem anderen Fokus geprägt, da ein Teil der in Auftrag gegebenen Komposition daraus bestand, mit alternativen Stimmungen und Mikrotonalität zu arbeiten. Das bewog den 1982 geborenen Louca dazu, auf modifizierten Instrumenten zu komponieren und zu spielen. Diese Herausforderungen und Experimente interessieren ihn. Daneben ist Louca fester Bestandteil mehrerer genreübergreifender Formationen wie den Dwarfs of East Agouza oder dem internationalen Septett Karkhana.
Bei der Probe im Tonstudio evoziert er nun den Charakter der Stücke: „Das ist heiter, genau wie der erste Teil. Wie eine heitere Ballade.“ Die Band tastet sich langsam heran. Nach einem Durchlauf, bei dem nun auch die Rhythmusinstrumente mitspielen, ist Louca noch nicht ganz zufrieden. Er dreht sich zu Schlagzeuger Tommaso Cappellato: „Es muss mehr grooven. Folge der Linie nicht so sehr.“
(5. November, 18 Uhr im Silent Green)
Cappellato greift beim nächsten Anlauf einen wankelnden, auf der Snare betonten Schlagzeugrhythmus auf, der sich durch synkopische Akzente mit der Melodielinie, die Louca nicht mehr auf der Oud, sondern der E-Gitarre spielt, immer wieder löst und verzahnt. Das ist es – Louca lächelt verzückt. Es scheint, als müsse die Band vom melodiösen Material ausgehend erst eine gemeinsame Basis finden, von der aus die Musikerinnen und Musiker einschätzen können, wie und wann sie sich ihre Freiräume nehmen können.
Die Zirkularität dieser Praxis – die einzelnen Teile werden als Schleife für sich gespielt und erst dann miteinander verbunden – steht im starken Kontrast zur europäischen Musiktradition, die Werke und Teile von Werken stets linear, von Anfang bis Ende, begreift. Je länger dieser Prozess andauert, desto mehr nimmt die Musik Gestalt an. Die Bläser wandeln nun vorsichtig Teile der Linie um, das Sopransaxofon bricht in solistische Verzierungen aus, der Aspekt der kollektiven Improvisation tritt während der Probe immer mehr in den Vordergrund.
Ob etwas von dem neuen Material auch am Freitagabend im Silent Green zu hören sein wird, weiß Louca noch nicht. Erst mal stehen die Aufnahmesessions an, bei denen das Rückgrat des nächsten Albums erarbeitet werden soll. So oder so kann man hören, wie sich das Ensemble vom ersten projektbasierten Album hin zu einer organischen Band entwickelt hat, die Klangterrain erkundet. Nicht nur Kairo, sondern auch São Paulo und Johannesburg liegen dieses Jahr im Städtefokus des Jazzfests. Dafür werden neben dem Berliner Live-Programm auch Videoarbeiten und Live-Konzerte aus den drei Städten per Stream übertragen. Diese Praxis ist aus dem vergangenen Jahr geblieben, als das Festival nur digital stattfinden konnte.