Zuerst kommt die Komödie

Am Ende des Kais, wo die Lastkähne andocken, lockt diesmal nicht die Silhouette der Lichterstadt Paris. Stattdessen steht da ein Kleiderschrank herum. Ein Mensch hockt darauf, Mädchen oder Frau oder Kind, genau lässt sich das nicht mal mit einem altmodischen Operngucker erkennen. Jedenfalls steckt diese Gestalt in einer schwarzen Kutte. Macht feierliche Faxen, klettert dann runter und mischt sich unters Volk. Warum?

Ist es das Schiffsgespenst? Eine der Nornen? Das Schicksal? Wissen können das nur Christof Loy und sein Bühnenbildner Étienne Pluss. Sie haben diese Statisten-Figur ersonnen für ihre Inszenierung von „Il Tabarro“, Teilstück aus Giacomo Puccinis „Il Trittico“. Das Publikum der Salzburger Festspiele ist freilich Kummer gewöhnt. Es hat hinreichend Erfahrungen gesammelt mit Regie-Einfällen und schert sich nicht weiter um surrealen Symbolquark, solange der nicht allzu nackig wird. Außerdem geht es ansonsten geradezu puppenstubenhaft pittoresk und werktreu zu auf der Breitwandbühne des Großen Hauses.

Die trüben Peitschenlampen am trostlosen Kai; der Äppelkahn des alten Michele; die roten Pumps seiner Frau Georgette, die am liebsten aber barfuß läuft und vom sesshaften Leben auf dem Land träumt; die muskulösen Hafenarbeiter, die beim Löschen der Ladung helfen und denen die Padrona zum Feierabend eine Flasche Rotwein spendiert; die Klatschtante La Frugola, die sich dazugesellt; der Drehorgelmann, der mit arg verrutschten Klängen zum Tanz aufspielt. All dies entspricht dem Realismusideal einer Verismo-Oper bis hart an die Kitschgrenze. Das Ding auf dem Schrank indes gehört zu den letzten Zuckungen einer Mode, die sich selbst überlebt hat.

Asmik Grigorian als leichtfüßige Georgette

„Il Tabarro“ ist eine Oper, die ausnahmsweise in der Gegenwart spielt, freilich in der Puccinis, nicht der unsrigen. Mag sein, das dies der Grund ist, warum Loys Bilder in ihrer historisierenden Milieutreue wie gemalt wirken, obgleich sie stetig in Bewegung sind. Der leitmotivisch anspielungsreichen Orchestersprache Puccinis mit ihrem Überwältigungspotenzial kommt das unbedingt entgegen, man hört mitten in den Stücken plötzlich mit ganz neuen Ohren zu. Auch die Personenführung kostet akribisch alle Detail aus, und die Sängerfiguren fügen sich in dieses Konzept einer neuen Werktreue mit Wonne. Allen voran: Asmik Grigorian, Salzburgs derzeitiger Publikumsliebling.

Sie ist eine famos leichtfüßige Georgette. Überhaupt kann diese Sängerdarstellerin mit der großen, beweglichen Stimme in jede Haut schlüpfen, als sei es die eigne. Sie covert in dieser „Trittico“-Produktion gleich alle drei weiblichen Hauptrollen. Auch die Männer um sie herum agieren mit Leidenschaft. Wann hat man je einen so kinoklar brutalen Mord gesehen auf der Opernbühne wie den des eifersüchtigen Baritons Michele (Roman Burdenko) am Tenor-Liebhaber (Joshua Guerrero) seiner Frau? Luigi wehrt sich um sein Leben, das Orchester bäumt sich auf, es schreit. Die bis dato mit Menschen, Möbeln, Kisten, Lasten vollgerümpelte Szene hat sich längst geleert. Nachtnebel kam auf, eine hoffnungslose Dunkelheit, die sich von langer Hand angekündigt hatte in der Musik. Gleich anfangs, noch im Licht, wussten die falschen Septimen der Drehorgel, dass die Sache nicht gut ausgeht.

„Il Tabarro“ war der erste der drei Einakter, die Giacomo Puccini gegen Ende des Ersten Weltkrieges für „Il Trittico“ konzipierte. Er sollte das Triptychon menschlicher Sündenfälle eröffnen, im Sinne einer Steigerung der Empathie. Zuerst der vielleicht geläufigste, aber auch abscheulichste: ein kaltblütig geplanter Mord aus Eifersucht. Folgt zweitens die Tragödie der Nonne „Suor Angelica“: Selbstmord als Ausweg aus unverschuldetem Unglück. Schließlich, zum Abschluss, der nichtigste: die Komödie rund um den genialen Gauner „Gianni Schicci“. Schließlich ist auch Habgier eine Todsünde.

Es hagelt Pointen

Dieser Schlussstein des „Trittico“-Triptychons wird oft als Einzelstück aufgeführt; es ist, im Unterschied zu den zwei anderen, bekannt und beliebt. Erstens, weil es nur so Pointen hagelt darin. Zweitens, weil es die heißesten Wunschkonzerthits darbietet. Mit „Firenze è come un albero fiorito“ eine bläserchorbewaffnete Liebeserklärung an den Glanz der Stadt Florenz, gesungen von Belcanto-Tenor Rinuccio (Alexey Neklyudov), der die Lauretta liebt. Und mit „O mio babbino caro“, das Arioso der Lauretta (durchtrieben unschuldig: Grigorian), die Rinuccio unbedingt heiraten will, auch wenn ihr Papa dafür in die von Dante beschriebene Hölle für Erbschleicher einfährt. Schicchi tritt am Schluss an die Rampe, er bittet in dürren Worten, süß unterstützt von Violine und Klarinette, um mildernde Umstände.

In „Suor Angelica“ dominieren dann Frauenstimmen, Kirchentonarten und Fernchöre. Eine Nonne (hochdramatisch: Grigorian) büßt im Kloster für die Schande, die sie über ihre Familie brachte. Ihr Kind, das sie unehelich gebar, hat sie sieben Jahre lang nicht gesehen. Einziger streitbarer Höhepunkt der Elegie: der Besuch der bösen Tante (klirrend herrisch: Karita Mattila). Ihr Kind, so erfährt Angelica, ist längst tot. Hier kann jetzt nur noch ein Marienwunder helfen.

[Der tägliche Nachrichtenüberblick aus der Hauptstadt: Schon rund 57.000 Leser:innen informieren sich zweimal täglich mit unseren kompakten überregionalen Newslettern. Melden Sie sich jetzt kostenlos hier an.]

Alle drei Einakter spielen im gleichen geschlossenen, sängerfreundlichen Bühnenraum, jeweils neu und schön möbliert. Alle Sänger können sich felsenfest verlassen auf Franz Welser-Möst, der mit den Wiener Philharmonikern im Graben einen himmlisch perfekten Puccini-Traum nach dem anderen erfüllt – süß und bitter. Warum der Regisseur einmal mehr die Reihenfolge der drei Einakter umgestellt hat, bleibt sein Geheimnis.

Der Abend beginnt also in Salzburg, wo „Il Trittico“ noch nie zuvor gezeigt wurde, mit der Komödie. Er endet mit der Tragödie. Federleicht klar zu Anfang, sentimental verschwiemelt zum Schluss: Das hat nur dann einen Sinn, wenn man unbedingt auf Eskapismus aus ist. Es sei denn, man will an die Massenwirksamkeit der „Sissi“-Filme anknüpfen, worin sich mit dem uritalienischen Schlachtruf „Viva la mamma“ das Martyrium der Romy Schneider in Wohlgefallen auflöste. Als Angelica, nach triumphierendem Schlussgesang, Gift schluckt und – schon halb tot – auf die Knie geht, um ihr Kind zu umarmen, ist das Publikum zu Tränen gerührt und hochzufrieden. Es applaudiert im Stehen.