Warum die Männer auf Deutschlands Bühnen dominieren

„Liebe Livemusik in Deutschland, wir haben ein Problem!“ Es waren deutliche Worte mit denen die Schweizer Songwriterin Sophie Hunger im Juni in einem offenen Brief im „Spiegel“ die Zustände in der deutschen Festivalszene kritisierte. Auf den meisten Veranstaltungen der Branche, so prangerte die 38-Jährige an, treten beschämend wenige Musikerinnen auf.

Tatsächlich wähnt man sich nicht im Jahr 2021, wenn man auf das Programm der großen Festivals vom kommenden Jahr blickt. Noch immer tauchen bei Rock am Ring oder Hurricane bloß eine Handvoll Frauen unter hunderten Männern auf. Sogar die AfD Thüringen, die gegen das Paritätsgesetz geklagt hatte, habe in ihrer Landtagsfraktion mehr Frauen im Line-Up als manches Musikfestival, hielt Sophie Hunger zurecht fest.

Die Musikerin kommt 2022 zum „Tempelhof Sounds“-Festival in Berlin. Und mit ihr zahlreiche andere namhafte Künstlerinnen wie Courtney Barnett, Anna Calvi oder Kat Frankie. Zudem spielen hier Bands wie London Grammar oder Big Thief, bei denen Frauen am Mikrofon stehen. Bloß bei den Headlinern dominieren mit Muse und The Strokes noch die alten Herren.

„Wichtigste Form von Diversität“

Auf Nachfrage gab FKP Skorpio, einer der Veranstalter, an, dass bewusst bei mehr als der Hälfte der geplanten Konzerte Frauen auf der Bühne stehen werden. Dieser Aspekt sei von Anfang an als „die wichtigste Form von Diversität“ betrachtet worden. Man sei froh, „das erste große Festival Deutschlands“ zu sein, dem die Umsetzung schon mit der ersten Ankündigung gelungen sei. Auch das Primavera Sound in Barcelona oder das Airwaves Iceland beweisen seit Jahren, dass international erfolgreiche Festivals durchaus in der Lage sind, beim Booking diesen Aspekt zu berücksichtigen.

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Die Schweizer Sängerin Sophie Hunger.Foto: Britta Pedersen/dpa

Wenn Veranstalter, Clubs, Radiosender und Streamingdienste bei der Auswahl ihrer Künstler*innen auf die Ausgeglichenheit der Geschlechter achten, dürften sie künftig auch wirtschaftlich davon profitieren. Das geht aus einer vor wenigen Tagen in Hamburg auf dem Reeperbahn-Festival vorgestellten Studie hervor. „Da wachsen Zielgruppen heran, denen das wichtig ist und deshalb kann es für die Branche klug sein, sich darauf einzustellen“, sagte Festivalchef Alexander Schulz dazu.

Konkrete Ursachen für die Missstände

Schon jetzt achtet demzufolge jeder Fünfte beim Kauf von Musikprodukten auf Geschlechtervielfalt, in der Gruppe der 16- bis 29-Jährigen ist es bereits jeder Dritte. Auch bei der Auswahl eines Radiosenders oder eines Streamingdienstes würden sich 28 beziehungsweise 34 Prozent der Befragten von einer Selbstverpflichtung für ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis in den Playlisten beeinflussen lassen.

Die vom Reeperbahn-Festival in Auftrag gegebene repräsentative Studie ist Teil der 2017 angestoßenen „Keychange“-Offensive. Seitdem macht sich das Festival für die Stärkung von Frauen in der Musikwelt stark. Über 300 Festivals und Musikunternehmen haben bisher das sogenannte „Keychange Pledge“ unterzeichnet – eine Zusage, bis 2022 ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis zu erreichen.

Die Studie benennt übrigens konkrete Ursachen für die Missstände auf deutschen Bühnen: Um Risiken zu vermeiden, werden selten mutige Entscheidungen zur Karriereentwicklung von Künstlerinnen getroffen. Männern würden noch immer häufig Attribute zugeschrieben, die in der Branche als erfolgsrelevant gelten. Frauen jedoch mit schwächeren Attributen assoziiert. Zudem erlebten Frauen oft eine Ausgrenzung aus männlichen Netzwerken, dies behindere ihre Karriereentwicklung. mit dpa