Europa und islamische Kunst: Bewusstsein für die eigene Unzulänglichkeit
Als „München leuchtete“, wie Thomas Mann die Prinzregentenzeit umschrieb, führte die Ausstellung „Meisterwerke muhammedanischer Kunst“ im Jahr 1910 nicht weniger als 3600 Kunstobjekte aus dem islamischen Kulturkreis zusammen. Hier wurden sie erstmals als „Meisterwerke“ in denselben Rang erhoben, der bis dahin allein der abendländischen Kunst zugesprochen worden war.
Zur Münchner Ausstellung, die aus dem Interesse des bayerischen Regenten für persische Teppiche erwuchs und binnen nur eines Jahres organisiert wurde, erschien ein dreibändiger Katalog im Großformat. Staunend steht man heute vor der Vitrine, in der die drei Bücher ausliegen, damals nach dem höchsten Stand der Technik gedruckt. Mochte diese Prachtausgabe auch nur für wenige Begüterte erschwinglich gewesen sein, so bedeuteten Ausstellung und Katalog gleichwohl einen enormen Schub für die Kenntnis der islamischen Kunst und die gerade erst entstehende Disziplin der islamischen Kunstgeschichte.
Kritik am Orientalismus
Zu den Besuchern der 1910er Ausstellung zählten Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Beide waren zuvor bereits nach Tunesien gereist, das sich damals zu einem Zielland des gehobenen Tourismus’ entwickelte. Gabriele Münter hatte eifrig mit ihrer hochmodernen Box-Kamera fotografiert, mit wachem Blick für die spezifische Ästhetik von Bauten, Trachten und Situationen. Ihr Lebensgefährte Kandinsky, der die zunehmende Abstraktion vom Gegenstand betrieb, erhielt durch die vielgestaltige Ornamentik der islamischen Kultur sowie durch die persische Miniaturmalerei entscheidende Impulse auf seinem Weg zu reiner Malerei.
Münters Fotografien aus Tunesien und Kandinskys Gemälde ab 1910 zählen zu den Höhepunkten der Ausstellung „Re-Orientations“, mit der das Kunsthaus Zürich das Thema „Europa und die islamischen Künste 1851 bis heute“ untersucht. In der von Sandra Gianfreda erarbeiteten Ausstellung mit rund 170 Katalognummern geht es um einen Aspekt, der in der seit Edward Saids Brandschrift gegen den „Orientalismus“ immer weiter verbreiteten Kritik am westlichen Kolonialdenken übersehen wird: den der „Islamophilie“.
Denn seit der Münchner Ausstellung von 1910 – und zuvor schon angeregt durch die 1851 in London erstmals gezeigten Schätze aus dem indischen Mogulreich – gibt es im Westen eine nicht bloß schwärmerische, sondern sehr genau an den islamischen Artefakten genährte Begeisterung für die Eigenart dieser Kultur.
Mehr als nur dekorativ
Sie äußert sich zunächst im Drang zur Nachahmung insbesondere von Keramik und bemaltem Porzellan. Gewiss dienten die so entstandenen Objekte aus den Manufakturen etwa im französischen Sèvres lediglich der Dekoration. Aber zugleich beförderten sie ein vertieftes Interesse an der bis dahin aus kolonialistischer Perspektive verzerrt wahrgenommenen Kultur. Karl Ernst Osthaus, der Mäzen der Moderne und Gründer des Museums Folkwang, sammelte sogar noch davor Objekte aus dem islamischen Mittelmeerraum; ihm ist ein eigenes Kapitel gewidmet.
Bei Künstlern wie Münter und Kandinsky, bei Paul Klee und später Henri Matisse geht es längst nicht mehr um ein punktuelles Aufgreifen, heutzutage „Appropriation“ genannt; sondern um das Durchdringen der ästhetischen Prinzipien der anderen Kultur aus dem Bewusstsein eigener Unzulänglichkeit heraus. Kandinsky hatte bereits in Russland ein tiefes Interesse an den indigenen Kulturen des Ostens entwickelt, fernab von kulturellem Hochmut.
Klee verwebt die unterschiedlichsten Einflüsse in seinem poetischen Bilderkosmos. Matisse, dem ebenfalls ein wunderbares Kabinett in der Zürcher Ausstellung gewidmet ist, greift zwar das „orientalistische“ Lieblingsthema der „Odaliske“ im Harem auf, jedoch ohne die früheren sexualisierten Konnotationen und ganz an der Ästhetik von Stoffen und Mustern interessiert – am meisten aber an der Flächigkeit der Darstellungen in islamischen Kulturen.
Neugier und Bewunderung
Der Formenreichtum der fremden Kultur regte Gestalter aller Sparten an, so Mario Fortuny zu seinen europaweit gefragten Stoffen oder Carlo Bugatti zu Möbeln für eine erlesene Klientel. „Die Neugier und Bewunderung für die islamischen Objekte waren häufig rein formalästhetischer Natur“, tadelt die Einführung zur Zürcher Unternehmung, „ohne dass die Kunstschaffenden ein vertieftes Interesse an ihrer ursprünglichen Funktion, ihrem jeweiligen Kontext oder allgemein den Menschen dieser Länder entwickelt hätten.“ Das ist zwar richtig, bezeichnet aber nur das prinzipielle Dilemma der Aufklärung, Wissen über Sachverhalte zu generieren, statt in ihnen verwurzelt zu bleiben. Das gilt für den Umgang mit christlicher Kultur und ihren Artefakten ganz ebenso.
Jedenfalls wartet am Ende der weniger thematisch als um einzelne Künstlerinnen und Künstler herum gruppierten Ausstellung das Erlebnis von Lotte Reinigers „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“. Mit ornamentalen Scherenschnitten schuf die gebürtige Berlinerin den ersten abendfüllenden Animationsfilm. Wie sehr er sich der islamischen Bildauffassung verdankt, wird in Zürich unmittelbar kenntlich.