Wie Popstars in Videospielen eine neue Musikform kreieren
Ursprünglich wollte die britische Band Radiohead ein Museum aus Stahlcontainern bauen, um das 20-jährige Jubiläum ihrer beiden legendären Alben „Kid A“ und „Amnesiac“ zu feiern, erklärte Thom Yorke unlängst in einem Blogpost. Der Plan: dieses „brutalistische Raumschiff“ ins Londoner Victoria & Albert Museum krachen lassen.
Daraus wurde nichts. Zwei Jahre lang arbeiteten Radiohead an einer Alternative, die viele überrascht hat. Gemeinsam mit Epic Games, den Machern von „Fortnite“, hat die britische Kultband ihrer Musik einen virtuellen Palast gebaut, eine Art Mischung aus Museum und Videospiel, das nun für PC, Mac und PlayStation erschienen ist. Radiohead knüpfen damit an eine lange Geschichte der Crossover zwischen Pop- und Gameskultur an, die sich seit ungefähr zehn Jahren zu intensivieren scheint, besonders durch die Pandemie.
Schon seit den neunziger Jahren unternehmen Popstars Ausflüge ins Gamesmedium, probieren sich aus. Von einigen gelungenen Ausnahmen abgesehen wurde es dabei allerdings lange Zeit vor allem verdammt schräg: So verwandelte der King of Pop sich in einem cringewürdigen Anfall von Größenwahn für Sega beispielsweise in den 500 Jahre alten „Space Michael“, der mit gut getimten Dance-Moves und Signature-Sprüchen wie „Woo!“ und „Damn!“ gegen eine Invasion roboterartiger „Rhythmusdiebe“ kämpfte. Der Rapper 50 Cent rettete in gleich zwei Spielen mit Bong, Vitaminwasser und Uzis bewaffnet erst New York und dann den Nahen Osten vor Terroristen. Und die Hardrocker von Aerosmith schickten Gamer auf einen besonders absurden Feldzug gegen rollerskatende Powerranger und genmanipulierte Affen. „Musik ist die Waffe“, so der Slogan, hieß: Deine Bazooka schießt CDs. Popstars in Games waren wie Brausetabletten in einer geschüttelten Cola, am besten gar nicht erst anfassen.
Das ändert sich nun. Gründe gibt es viele: Spieleserien wie „Fifa“ oder „Grand Theft Auto“ werden mit eigenen in-Game-Radios veröffentlicht, in denen ein Platz heute begehrter ist als früher auf MTV. Ein Viertel der Gen Z’s gibt an, vorrangig neue Musik durch Videospiele zu entdecken, nur Tik Tok ist beliebter. Gleichzeitig sind viele Popstars wie Grimes oder Snoop Dogg selbst leidenschaftliche Gamer, vertraut mit dem Medium. Sie wollen hier stattfinden, manche streamen auf Twitch ihre eigenen Spielesessions. Auch die Labels sind aufgewacht: Heute sei es üblich, die Künstler bei Vertragsverhandlungen nach ihren Lieblingsspielen zu fragen, erklärte der Warner-Music-Chef im Interview.
Neuere Kooperationen wie zwischen dem Londoner Rapper Stormzy und der französischen Spieleschmiede Ubisoft für „Watch Dogs: Legion“ wachsen organischer, wirken authentischer. Stormzy komplementiert hier mit seiner gesellschaftskritischen und coolen Musik ein Game, das sich um einen Überwachungsstaat in seiner eigenen Heimatstadt dreht.
Doch den größten Einfluss auf die tektonische Verschiebung zwischen Games und Pop entfalten die Online-Welten von Hits wie „Fortnite“, „Minecraft“ und „Roblox“, die jeweils zwischen 50 bis 350 Millionen Spieler auf sich vereinen. Sie wollen längst mehr als nur Games sein, sogenannte Metaversen, soziale Orte zum Abhängen und Plattformen für Kreativität, auch Musik. Leute bauen in diesen virtuellen Spaces eigene Clubs auf, Musiker veranstalten Listening-Sessions ihrer Alben, manchmal auch gleich ganze Festivals. Mittlerweile stoppen Acts wie Travis Scott, Lil Nas X und Ariana Grande auf ihren Tourneen für einzigartige Shows. Sie erzielen immer neue Zuschauerrekorde, mit zuletzt über 30 Millionen Besuchern.
Die Stars tauschen die Intimität und Spontaneität einer Live-Performance gegen ein durchchoreographiertes Spektakel. Es dauert oft nur 10 Minuten und ist eine seltsame neue Mischung aus Mixtape, Game und interaktivem Musikvideo. Travis Scott stapft als rappender Riese über die „Fortnite“-Insel, lässt zu Kurzversionen seiner Songs Feuer und Sterne vom Himmel auf seine Fans regnen, dann explodiert die Welt, und alle tauchen unter Wasser um seinen riesigen Körper, schweben später im Universum. Ariana Grande steigt in ihrer Show anfangs aus einer Blume auf und reitet später auf einem Regenbogen-pupsenden Einhorn durch fluffige Wolkenlandschaften in bonbonbunte Traumwelten.
MTV zeigte einst, dass Musik mehr war als nur ein Hörerlebnis, ein visuelles Vergnügen. Diese neuen Erfahrungen zwischen Games und Pop gehen weiter: Musik und Bild verbinden sich mit der Erfahrung eines formbaren Fantasie-Raumes. Radiohead treiben diese neue Form mit ihrer Ausstellung, der „Kid A Mnesia Exhibition“ auf die Spitze.
Ein Labyrinth wartet hier auf Fans, amalgamiert aus den gemeinsam eingespielten Aufnahmen von „Kid A“ und „Amnesiac“, inklusive geheimer B-Seiten, unveröffentlichter Studiosessions und bergeweise verstörendem Artwork. Daraus wachsen beengende Flure, Diskotheken wie aus der Hölle, wunderschöne Spiegelsäle, Pyramiden.
Selbst die vielen Band-Maskottchen sind zum Leben erwacht, irrlichtern herum: Strichmännchen mit grinsenden Gesichtern, Minotauren aus Pappmache, riesige Teufel. Sie lachen, tanzen oder starren einen aus ihren toten Augen an.
Jeder Raum in diesem virtuellen Space ist einem oder mehreren Songs gewidmet. Die Musik führt zwischen ihren Wänden ein Eigenleben, wie ein Geist. Man hört bestimmte Spuren schon von weitem, Geräusche aus einem Song, ein Klackern, Thom Yorks klagende Stimme. Besonders beeindruckend: In einem Zimmer sausen Zeichnungen von Thom Yorke wie ein Vogelschwarm zum Sound von „In Limbo“ um einen herum. An anderer Stelle schwebt man selbst plötzlich durch die bodenlose Dunkelheit, während eines der schönsten Lieder ertönt, die Radiohead je geschrieben haben, „How To Disappear Completely“. Thom Yorke besingt seine Angst, wahnsinnig zu werden, seine Paranoia. Währenddessen löst sich von einem überlebensgroßen Artwork in der Ferne langsam die weiße Farbe, bis die Partikel einen umhüllen wie Zauberstaub, mit der engelsgleichen Falsett-Stimme des Sängers.
Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass in Zukunft immer mehr Stars Konzerte in Games geben werden. Oder aus ihren Alben begehbare Museen machen wie Radiohead; Orte, die zu Wanderungen durch die Musik und die Kunst einladen, zum gemeinsamen Erkunden und Verweilen. Der Fantasie sind im beginnenden „Metaverse“-Zeitalter kaum Grenzen gesetzt. Radiohead wissen, dass darin auch eine Gefahr liegt: Ein Raum sieht nicht umsonst aus wie aus der Matrix, mit Code an den Wänden und Warnungen an die Besucher.