Das Eisbergmodell
Emma Clines Figuren haben ein bemerkenswertes Talent, sich selbst zu sabotieren. Sie nehmen haufenweise Psychopharmaka, balancieren oft am Limit, erniedrigen sich oder werden von anderen erniedrigt. Manche von ihnen kommen aus der gehobenen Mittelklasse, andere stammen aus dem kreativen Milieu. Ihre Probleme sind Luxusprobleme – was sie jedoch für die Betroffenen nicht weniger schmerzhaft macht.
„Daddy“ heißt der Erzählband von Emma Cline, düster grundiert, in denen menschliche Beziehungen fragil, wenn nicht sogar zerrüttet sind und die Figuren seltsam unerlöst bleiben. Mit ihrem Debütroman „The Girls“ hatte Emma Cline 2016 einen hochgelobten Bestseller geschrieben.
Die Frauen werfen den Männern Köder hin
Auch die Heldin dieses Romans, die 14-jährige Evie, war unsicher und auf der Suche. Sie war in die Fänge einer kalifornischen Hippie-Kommune geraten, die man unschwer als jene von Charles Manson entziffern konnte. Manson hatte 1969 seine Anhängerinnen zu den Morden an dem Model Sharon Tate, dem Supermarktbesitzerehepaar LeBianca sowie an vier weiteren Menschen verleitet. Evie lässt sich jetzt durchaus als Schwester mancher Figuren dieses Erzählbands sehen.
Auf den ersten Blick kann man einige der insgesamt zehn Stories als Beitrag zur MeToo-Debatte verstehen: übergriffige, schwanzgesteuerte Männer auf der einen Seite, Frauen als hilflose Opfer auf der anderen. Doch die kalifornische Schriftstellerin, die 1989 geboren wurde und mit fünf Schwestern in dem Städtchen Sonoma aufwuchs, ist zu klug, um sich mit solchen Schwarz-Weiß-Konstellationen zufrieden zu geben.
Viele Heldinnen ihrer Stories werfen den Männern immer wieder Köder hin, exponieren sich, um ihnen zu gefallen, erfüllen oder übererfüllen männliche Erwartungen – oder das, was sie dafür halten. Eingeschworene Feministinnen werden da mitunter vermutlich schlucken.
Eine dieser Frauen, die willfährig männliche Wünsche bedient, ist die 35jährige Thora in der Geschichte „A/S/L“ Wenn ihr Mann zur Arbeit gegangen ist, betritt sie einen Erotik-Chatroom. Zeigt Fake-Fotos von sich, auf denen sie wie ein Teenager aussieht, beantwortet Fragen über ihre Erfahrungen mit männlichen Schwänzen.
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Nie zuvor hatte Thora, die in ihrer Ehe einsam ist, so viel Aufmerksamkeit von Männern bekommen. Sie schafft von sich selbst eine „alternative Realität“, wie Emma Cline es ausdrückt, eine Realität, nach der sie süchtig wird – Erregung in digitalen Zeiten.
Später landet Thora in einer psychosomatischen Klinik, wo sie einem bekannten Show-Promi und notorischen Frauen-Betatscher begegnet, der ebenfalls in Therapie ist – der Filmproduzent Harvey Weinstein lässt grüßen. Dass Thora ausgerechnet ihm, dem größten Arschloch in der Klinik, gefallen möchte, ist einer dieser menschlichen Abgründe, die Emma Cline so hervorragend schildern kann.
[Emma Cline: Daddy. Storys. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Carl Hanser Verlag, München 2021. 256 Seiten, 22 €.]
Fremdheit ist überall, nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch in den Familien. In der Eingangserzählung, „Was macht man mit einem General“, freuen sich die Eltern auf ihre erwachsenen Kinder, mit denen sie Weihnachten in ihrem Haus in Kalifornien verbringen wollen. Doch John, der Vater, erlebt Distanz zu seinen Kindern statt Wärme, da ist ein „Schleier zwischen ihm und dieser Gruppe von Menschen…, die seine Familie waren“.
Tiefe Kluft zwischen den Generationen
In einer weiteren Geschichte, „Northeast Regional“, reist ein Vater zu seinem Sohn, der in der Schule offenbar einem Mitschüler etwas angetan hat – was es ist, wird von Cline nicht verraten. Der Sohn muss die Schule verlassen, aber er hat Glück, dass der Vorfall mit seinen obszönen Details in keiner Akte erwähnt wird. Auch hier herrscht eine tiefe Kluft zwischen den Generationen, eine aggressive Unnahbarkeit zwischen Vater und Sohn.
Fremdheit bestimmt auch das Verhältnis vieler Figuren zu sich selbst. „Ich komme mir vor, als wäre ich aus meinem eigenen Leben herausgepflückt worden“, sagt einmal eine junge Frau, die eine Affäre mit einem berühmten Schauspieler hatte – ausgerechnet in der Zeit, in der sie als Kindermädchen in seiner Familie gearbeitet hat. Oft hat man das Gefühl, dass Emma Clines Protagonisten nicht ihr eigenes Leben leben, überfordert sind in ihrer Suche nach Wahrheit, Authentizität und einem eigenen, nicht fremdbestimmten Leben.
Cline geht mit der Coolness einer Anästhesistin vor
Die amerikanische Schriftstellerin beherrscht die Kunst, Leerstellen zu schaffen. Vieles belässt sie bewusst im Vagen. Das Ungesagte macht den Reiz dieser Geschichten aus, und der Leser, die Leserin wird zum Detektiv, der sich die vielen Ungereimtheiten selbst erschließen muss. So bedient Emma Cline, was die Komplexität der menschlichen Psyche angeht, perfekt das Eisbergmodell, wie es Ernest Hemingway beschrieben hat: Spannend ist vor allem das, was nicht ausgesprochen wird – erzählerische Enthaltsamkeit statt Erklärung.
Mit großer Souveränität blättert die Autorin diese unvollendeten Lebensentwürfe auf. Sie erzählt in der dritten Person, schreibt distanziert, nüchtern; warmherzige Empathie ist Emma Clines Sache nicht. Sie will nicht das Mitleid ihrer Leserinnen, keine Tränen, keine Identifikation. Cline geht mit der Coolness einer Anästhesistin vor, die uneingeschränkte Macht über ihre Figuren hat. Man liest diese Stories voller Bewunderung, weil sie perfekt gebaut sind, weil sie mit punktgenauer Intelligenz die Abgründe und Ängste der Figuren zu Tage fördern.
Gelegentlich kann sich Cline dabei eine bissige Bemerkung nicht verkneifen. Wenn sie zum Beispiel den Tranquilizer konsumierenden Harvey-Weinstein-Typ beschreibt, der trotz seiner sexuellen Übergriffe um einen Strafprozess herumgekommen ist: „Es gab Bildmaterial von ihm, wie er gehetzt einem Wagen entstieg, ein Benzodiazepin-Lächeln im Gesicht.“