Blasse Sumpfblüte als weibliches Rollenmodell
Das ätherische Wesen, das sich durch die Sumpflandschaft von North Carolina bewegt, wirkt wie eine mythische Sagengestalt. Ihre Geschichte ist rätselhaft. Die Bewohner des Städtchens Barkley Cove kennen nicht einmal den richtigen Namen Kyas, die hin und wieder in der kleinen Gemeinde auftaucht, um Besorgungen zu erledigen oder Benzin für ihr Motorboot zu kaufen. Hier heißt sie bloß „Marschmädchen“; wenn sie die Straße entlangläuft, blicken die Männer und Frauen verstohlen zu ihr herüber.
Vor allem die jungen Männer werden aufmerksamer, je wundersamer dieses blasse Geschöpf in Sommerkleidchen oder abgeschnittenen Jeans zu einer jungen Frau heranwächst. Ihre Sexualität, die sie im sanften Gegenlicht der Farne und Sumpfzypressen wie eine natürliche Aura umgibt, wirkt in den ländlichen Südstaaten der 1960er Jahre, noch vor dem Sommer der Liebe, bedrohlich.
Reese Witherspoon will mehr interessante Frauenfiguren im Kino
Als 2018 der Roman „Der Gesang der Flusskrebse“ der amerikanischen Zoologin Delia Owens erschien, avancierte die Coming-of-Age-Geschichte des „Marschmädchens“ innerhalb kürzester Zeit zu einem der erfolgreichsten Debüts der Gegenwart. Reese Witherspoon präsentierte das Buch in ihrer einflussreichen Literatursendung „Hello Sunshine“ und sicherte sich kurz darauf die Filmrechte.
Die Schauspielerin, die als Produzentin (unter anderem von der HBO-Serie „Big Little Lies“) inzwischen zu den mächtigsten Frauen in Hollywood gehört, verfolgt bereits seit einigen Jahren ihr Projekt, mehr – und vor allem diversere – Frauenfiguren in amerikanischen Filmen und Serien zu zeigen. Catherine „Kya“ Clark, die als Kind erst von der Mutter, dann von ihrem Alkoholiker-Vater und schließlich von ihren Geschwistern in einer Hütte in den Sümpfen von North Carolina zurückgelassen wird, passt genau in dieses Profil von widerständigen jungen Frauen.
Zumal die Marschlandschaften der Südstaaten, literarisch geworden im „Southern Gothic“-Genre, in Film und Fernsehen – von „Beasts of the Southern Wild“ über „True Detective“ bis zu Sofia Coppolas „Die Verführten“) – nichts von ihrer mythischen Faszination eingebüßt haben.
Genau darin liegt aber auch ein Problem der Verfilmung von Olivia Newman, die einfach nicht über den forschenden Blick der Zoologin Owens (beziehungsweise deren weiblicher Figur Kya) verfügt. Newman verfällt – hier ähnelt sie den Männern im Film – ihrer Protagonistin. Kya wird gespielt von der Britin Daisy Edgar-Jones, die in der Miniserie „Normal People“ vor zwei Jahren mit einem anderen weiblichen Rollenmodell bekannt wurde.
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Aber man kriegt Edgar-Jones’ porzellane Blässe, die irisierend durch die sumpfige Flora und Faune hindurchleuchtet, kaum mit dem beschwerlichen Leben in den Sümpfen zusammen. Kyas Naturverbundenheit, wenn sie die Pflanzen und Gräser in ihrem Notizheft abzeichnet, wirkt weniger ihren Lebensumständen geschuldet als vielmehr ästhetischen Beweggründen. Ihre ätherische Erscheinung wird immer wieder im resoluten Spiel von Edgar-Jones gebrochen. Nicht nur die Männer im Film neigen dazu, Kya zu unterschätzen; auch als Zuschauer fällt man ein ums andere Mal auf diese Inszenierung herein.
(In 28 Berliner Kinos, auch OV/UmO)
Ihre Unabhängigkeit, das hat Witherspoon wohl am meisten an Owens’ Roman interessiert, muss Kya wiederholt in der Konfrontation mit der Männerwelt behaupten. Wie die Vorlage verläuft auch „Der Gesang der Flusskrebse“ auf zwei Zeitebenen. Die Gegenwart der späten sechziger Jahre spielt überwiegend im Gerichtssaal, wo der Anwalt Tom Milton (David Strathairn) Kya in einem Mordprozess verteidigt. Chase (Harris Dickinson) wurde tot in den Sümpfen aufgefunden; Kya, die eine Affäre mit dem Sunnyboy hatte, ist die Hauptverdächtige. In den Rückblenden erzählt der Film vom schwierigen Aufwachsen Kyas und ihrer zarten Freundschaft mit dem Fischersohn Tate (Taylor John Smith), der sie später fürs College in der Stadt verlässt.
Die jungen Menschen in „Der Gesang der Flusskrebse“ sehen auf geradezu absurde Weise gut aus – als würden Witherspoon und Newman mit ihrer Verfilmung auf den boomenden „Young Adult“-Markt schielen. Dass dabei gelegentlich auch der Naturkitsch und Liebesfilm-Klischees Überhand nehmen, ist bedauerlich. Doch als Rollenmodell für junge Frauen (das Titellied singt Taylor Swift) gibt es sicher schlechtere Vorbilder als diese Instagram–Lovestory.