Verteidigung der Stille
Sie lernten sich während des Studiums kennen und waren ein Leben lang befreundet: Martha Argerich und Nelson Freire traten zusammen auf, spielten Alben ein, ein kongeniales Duo. Erst vor wenigen Wochen sollten beide als Juroren am Warschauer Chopin-Wettbewerb mitwirken, aber der Pianist sagte kurzfristig aus Krankheitsgründen ab – und sie ebenfalls, um ihm zur Seite zu stehen.
Der Brasilianer Freire war immer der Stillere, Bescheidenere, Scheuere neben der Argentinierin Argerich. Auch als Pianist war er schon früh berühmt für sein Einfühlungsvermögen, seine Sensibilität, seine Fingertechnik und die ausgefeilten, aber nie kapriziösen Phrasierungen – und seinen Eigensinn.
Beim Recital 2016 im Kammermusiksaal in Berlin brach er mitten im letzten Stück ab, Chopins Scherzo Nr.1. Er sei jetzt zu müde dafür, sagte er und spielte stattdessen Brahms’ Intermezzo A-Dur, ein Wiegenlied voller Abschiedsstimmung und Wehmut.
Die Romantiker waren ihm ohnehin die liebsten Komponisten. Nachdem er sich lange geweigert hatte, Musik überhaupt einzuspielen, weil sie für ihn vor Live-Publikum gehörte, nahm er in den letzten 20 Jahren doch wieder Alben auf. Mit Werken von Schumann, Schubert, Chopin, Brahms. Auch Beethoven, Debussy und Bach gehörten zu seinem Repertoire – ein klangvoller, ebenfalls romantischer Bach.
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Freire, 1944 in Brasilien geboren, wurde schon im Alter von fünf Jahren als Wunderkind gefeiert. Nach dem Studium in Wien debütierte er mit 24 beim New York Philharmonic Orchestra und wurde bejubelt. Seitdem spielte er in den großen Konzertsälen der Welt, trat mit den großen Orchestern auf und erhielt zahlreiche Preise.
Am Montag ist Nelson Freire mit 77 Jahren in Rio de Janeiro gestorben, wie dortige Medien berichten, ohne dass sie eine Todesursache angeben. 2019 war Freire auf der Strandpromenade von Rio gestürzt, er brach sich den Arm und gab seitdem keine Konzert mehr. „Nelson ist in eine tiefe Depression verfallen“, sagte der brasilianische Pianist João Martins der Zeitung „O Globo“. „Ich glaube, dass diese Depression stärker war, als er aushalten konnte, denn die Musik war alles für ihn.“
Kurz vor dem Unfall hatte er sich zu seinem 75. Geburtstag 2019 noch das Album „Encore“ geschenkt, eine Sammlung seiner Lieblingsstücke. Der Schlusstitel: „Navarra“ des spanischen Komponisten Isaac Albéniz, fröhliche, überschwängliche Musik. Auch das gehört zu seinem Vermächtnis. (mit dpa)