Auch Einzelschicksale sind in der Fußball-Nationalmannschaft wichtig
Das Erste, was Timo Werner sah, als die schwere Zeit offenbar endgültig hinter ihm lag, war ein hämisch lachender Thomas Müller. Sein Teamkollege kam auf ihn zugestapft, er hatte den Oberkörper ein wenig vorgebeugt, wie er das häufig macht, den Mund weit aufgerissen und packte sich mit gespieltem Entsetzen an den Kopf.
Spätestens jetzt konnte auch Werner die Fassade der schlechten Laune nicht mehr aufrechthalten. Er lächelte.
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Timo Werner, leidender Stürmer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, hatte im Mönchengladbacher Borussia-Park gerade das 5:0 gegen den Europameister Italien erzielt, es war sein zweites Tor in diesem Spiel, sein zweites innerhalb von gerade mal 90 Sekunden – nachdem er zuvor in diesem Jahr noch gar nicht für das deutsche Team getroffen hatte. „Ich freue mich für Timo, dass er zwei Tore gemacht hat“, sagte Bundestrainer Hansi Flick. „Das ist für ihn wichtig. Enorm wichtig.“
Werner hat keine leichte Saison hinter sich, nicht in der Nationalmannschaft und vor allem nicht im Verein. Beim FC Chelsea, mit dem er vor einem Jahr die Champions League gewonnen hat, steht er massiv in der Kritik. In der Premier League hat Werner ganze vier Tore erzielt, einen Stammplatz besitzt er bei seinem Klub fürs Erste nicht mehr. So etwas schlägt einem Stürmer schnell aufs Gemüt. Und einem sensiblen Stürmer wie Timo Werner erst recht.
„Tore sind immer gut für einen Stürmer, in meinem Fall doppelt und dreifach, wenn man nach jedem Spiel angezählt wird und in der Kritik steht“, sagte Werner nach dem 5:2-Erfolg gegen die Italiener. „Dass ich nicht gerade der bin, der ich vor einiger Zeit noch war, ist auch klar nach den letzten Wochen und Monaten im Verein.“
Das Team braucht eine starke Offensive
Nach vier Unentschieden hintereinander, nach den langsam wiederkehrenden Zweifeln und der latent aufkommenden Kritik war die Nationalmannschaft vor dem letzten Spiel der Saison eigentlich nicht in der Situation, auf Einzelschicksale besondere Rücksicht zu nehmen. Es ging ums große Ganze, um ein gutes Gefühl, um Selbstvergewisserung und einen positiven Jahresabschluss. Der deutliche Sieg gegen die Italiener, über viele Jahrzehnte das schrecklichste Schreckgespenst für den deutschen Fußball überhaupt, kam da gerade recht.
Doch nachdem das drängendste Problem zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst war, widmete sich die Nationalmannschaft mit ebenso großem Eifer dem nächsten: ihren beiden Sorgenkindern Timo Werner und Leroy Sané, den nun schon länger kriselnden Offensivspielern. Wobei das eine Problem vermutlich originär mit dem anderen zusammenhängt. Ohne eine funktionierende Offensive wird die Nationalmannschaft nicht dauerhaft erfolgreich sein.
„Wir haben gute Spieler, wir haben eine gute Einstellung zu der ganzen Sache, wir haben einen guten Prozess am Laufen“, sagte Thomas Müller. „Aber so ehrlich muss man sein: Wir haben noch allerhand Defizite.“ Gerade bei der WM müsse man noch ein bisschen draufpacken, „das sehe ich vor allem in der Offensive“.
An einem Abend, an dem die Offensive gegen den Defensivweltmeister Italien fünf Tore erzielt hatte, mochte das ein wenig schräg klingen. Aber Müller hatte recht. „Offensiv wäre heute sogar noch mehr drin gewesen“, sagte er.
Neu sind solche Klagen nicht. Und neu sind auch die Zweifel an Werner und Sané nicht.
Sané als Ritter der traurigen Gestalt
In Mönchengladbach waren nicht einmal 30 Sekunden vergangen, als diese Zweifel neue Nahrung bekamen. Müller spielte Werner mit einem guten Pass an den italienischen Strafraum frei, doch dem Stürmer misslang die Annahme. Die verheißungsvolle Chance war vertan.
In diesem Stil ging es erst einmal weiter, sowohl bei Werner als auch bei Sané. Es war beileibe nicht alles schlecht. Beide waren am schönsten Angriff der Deutschen beteiligt, als der Ball von Torhüter Manuel Neuer ausgehend über acht Stationen mit jeweils nur einem Kontakt im italienischen Strafraum bei Jonas Hofmann landete, der schließlich an Italiens Torhüter Gianluigi Donnarumma scheiterte. Doch auf eine gute Aktion von Werner und Sané kamen gefühlt zwei schlechte.
Vor allem der Münchner Sané wurde mehr und mehr zum Ritter der traurigen Gestalt. Er trat im Strafraum am Ball vorbei, verhedderte sich im Dribbling, spielte, obwohl unbedrängt, Pässe zum Gegen- statt zum Mitspieler, verlor den Ball, blieb stehen, während alle anderen ins Gegenpressing gingen. Und wenn er in aussichtsreicher Position zum Schuss kam, dann bereitete er Italiens Torhüter Donnarumma wenig Mühe.
Sané hat in der Bundesliga zuletzt Ende Februar getroffen, in der Champions League steuerte er beim 7:1 gegen Salzburg Anfang März noch einmal ein Tor und zwei Assists bei, und in der Nationalmannschaft ist er seit dem 9:0 gegen Liechtenstein leer ausgegangen. Nationale Debatten um den Münchner, um seinen Gemütszustand und seine Körpersprache zählen inzwischen bei den Länderspielen zum Standardprogramm wie die immergleiche Eröffnungszeremonie. „Wir helfen ihm, aber er muss sich auch selber helfen“, hatte Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, vor dem Spiel gegen Italien gesagt. „Am Ende musst du dich als Spieler da herauskämpfen.“
Flick leistete erneut Hilfe zur Selbsthilfe. Trotz bescheidener Leistungen zuletzt standen beide Angreifer gegen Italien in der Startelf. „Es ist wichtig, dass die Spieler ein Vertrauen spüren. Wir haben ihnen das auch so vermittelt“, sagte der Bundestrainer. Werner nahm er erst vom Feld, nachdem ihm die beiden Tore gelungen waren. Sané durfte bis zum Schluss auf dem Platz bleiben. „Ich hatte gehofft, dass er auch noch ein Tor macht“, sagte Flick. Aber selbst an solch einem Abend kann nicht alles klappen.