Im Wechselbad des Grotesken und Entrückten: Teodor Currentzis dirigiert Berg und Schostakowitsch
Ein Moment der Irritation, als er die Hände schon zum ersten Einsatz erhoben hat. Irgendwo auf den oberen Rängen fällt etwas mit leisem Klirren zu Boden. Und als könnte man mit einem eingeschworenen Orchester nicht darüber hinwegdirigieren, setzt er mit fast divinatorischer Gelassenheit noch einmal leicht ab, bevor er von Neuem ansetzt und die Philharmonie bis in den letzten Winkel in seine Geste einschließt.
Teodor Currentzis weiß, was er „Dem Andenken eines Engels“, wie Alban Bergs einziges Violinkonzert im Untertitel heißt, schuldig ist. Und wenn sich in den ersten Takten zarte Quinten übereinanderschichten, in die Vilde Frangs Geige mit zunächst offenen Saiten einstimmt, ist es nicht nur die anfängliche Zerbrechlichkeit dieser alles forciert Zwölftönerische hinter sich lassenden Zwölftonmusik, die unbedingte Stille erfordert. Es ist der zusehends expressive, Wucht und Masse aufbauende Gegenraum, den das SWR Symphonieorchester mit seinem Chefdirigenten erschafft.
Die Norwegerin Vilde Frang bewegt sich mit temperamentvoller Leichtigkeit durch die unterschiedlichen Klimazonen dieses Instrumentalrequiems, das der jung verstorbenen Manon Gropius gewidmet ist. Entlang an Walzerseligkeiten und einem herbeizitierten Bachchoral lässt sie eine Innigkeit entstehen, die sich gleichermaßen ihrer virtuosen Ausdrucksfähigkeit wie der ganz aus der Struktur des Ganzen gewonnenen Emotionalität verdankt.
Schroffe Zacken
Noch in die Unruhe nach der Pause hinein dann die schroffen Zacken von Schostakowitschs achter Symphonie. Motivisch und atmosphärisch der Fünften – unüberhörbar gleich in den Anfangstakten – wie der Siebten eng verwandt, führen sie hinein in ein innerlich zerrissenes Werk. Auf deutschen Bühnen wurde die heroische Siebte, die „Leningrader“ Symphonie über die Hungerblockade durch die Wehrmacht, zuletzt mehrfach zugunsten der Fünften abgesetzt. Man hielt sie im Angesicht des russischen Kriegs gegen die Ukraine für weniger anstößig und vergaß gerne, dass sich der Komponist mit der Fünften Stalins Gunst zurückerobert hatte.
Ob er sich bei dem Tyrannen, der seine „Lady Macbeth“-Oper womöglich höchstpersönlich in einem ungezeichneten „Prawda“-Artikel verriss, damit wieder lieb Kind machen wollte, oder ob er einfach in einem System zu überleben versuchte, das seine besten Köpfe immer wieder umstandslos vernichtete, ist Teil unabgeschlossener Debatten. Über den konkreten Fall hinaus richten sie allgemeine Fragen an den Zusammenhang von Musik und Moralität.
Der Grieche Currentzis, mit russischer Zweitbürgerschaft, hat diesen Bann nun durchbrochen. Wer überhaupt Schostakowitsch spielen will, könnte man den Gründer der weltberühmten MusicAeterna im Perm interpretieren, muss akzeptieren, dass es nur eine Welt gibt, aus der diese Musik stammt. Wie sollte man in den Wechselbädern des Grellen, Grotesken und Entrückten, des Hoffen und des Bangens, des Triumphs und des Verzagens, die die im Sommer 1943 komponierte Achte prägen, das Universelle auch nicht mit den Umständen der Entstehung in Verbindung bringen.
Currentzis, dessen Probenarbeit am ersten Satz der Achten, man auf der SWR-Website verfolgen kann, ist seit jeher ungewöhnlich stark in der Durchformung, ja Überformung der kleinsten Phrase. Zusammen mit seinem Gespür für dynamische Kontraste ergibt das eine Klanggewalt, die ihre Wirkung tut, dem Orchester aber noch in den fahl leuchtendsten Passagen regelrecht Glanz verleiht. Andris Nelsons zum Beispiel hat das schon unheimlicher ausgedeutet. Ins ganz und gar verschwebende Ende dieser Symphonie schließlich ein langes Tacet schon jenseits der Partitur. Erst der Jubel danach ist wieder von dieser Welt.
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