Retrospektive Füsun Onur: Jedem ein Platz unter der Himmelsdecke
Blau gehört eigentlich zu den kalten Farben. Sie ist zugleich die Farbe der Träume, märchenhaft und magisch. Novalis, Bachmann, Lasker-Schüler ebenso wie Monet, Chagall, Yves Klein und viele andere waren fasziniert vom Blau. Dieser illustren Reihe schließt sich auch die in Istanbul geborene Füsun Onur an. „Ich liebe es, Blau zu verwenden“, sagt sie. „Blau versetzt uns in eine andere Welt.“
In dem Werk der 85-Jährigen, das in der Kölner Retrospektive chronologisch angeordnet ist, taucht man immer wieder ein ins Blaue. Etwa in der Installation „Kontrapunkt mit Blumen“ von 1982. Eine raumfüllende blaue Folie simuliert den Himmel und das Meer. Oder ist es ein paradiesischer Garten mit echten kleinen Bäumen und Blumen aus Papier, den man hier betritt?
Aber was hat der Kontrapunkt mit dieser „Artenvielfalt“ zu tun? Der Begriff aus der Musik steht für zwei Melodien, die sich zu einem harmonischen Klang vereinigen. Bei Onur sind es natürliche und künstliche Sphären, die in dem Raum stumm harmonieren.
Keine Handschrift
Die eigensinnig poetische Qualität dieser mit Alltagsobjekten entworfenen Landschaft nimmt sofort für sich ein. Schreitet man weiter, versteht man, warum Onur bis heute die türkische Kunstszene prägt. Das Streben, eine Handschrift zu entwickeln, eine marktkonforme Wiedererkennbarkeit, sucht man bei der Bildhauerin vergeblich. Sowohl das Spektrum der Materialien, die sie benutzt, wächst mit jedem Werk, als auch die Themen, die sie anspricht. Das konnte man zuletzt 2022 im türkischen Pavillon auf der Biennale von Venedig erleben.
Onur dachte sich während der Pandemie eine märchenhafte Erzählung aus. Im Mittelpunkt von „Once upon a time“ standen wenige Zentimeter kleine Mäuse und Katzen, die aus Draht geformt waren, mit Tüll und Pingpong-Bällen als Kopf. Sie begaben sich auf einem Plateau, stellvertretend für Menschen, auf eine Reise. Der Grund? Sie wollten der Bedrohung durch Viren und Klimawandel entgegentreten. Das tun sie jetzt auch im größten Saal des Museums.
Der geschickt getaktete Parcours lässt die Entwicklung von frühen abstrakten geometrischen Zeichnungen bis hin zur Idee der Skulptur als lineare Zeichnung im Raum nachvollziehen, von dreidimensionalen Raumobjekten bis hin zu Installationen aus Kleidern, Kisten oder Spielzeug.
Konzeptkunst aus Neugier
Wenn man sich fragt, wie Onur zu ihrer Vorgehensweise fand, wird man immer wieder auf ihre Neugier zurückgeworfen. Dazu gehört, dass sie nach dem Studium der Bildhauerei in Istanbul 1962 mit einem Fulbright-Stipendium in die USA ging. Nach ihrer Rückkehr lebte sie mit ihrer Schwester im Haus der Eltern am Bosporus, wo sich auch heute noch ihr Lebensmittelpunkt befindet.
Der Aufenthalt hatte sie für die Konzeptkunst geöffnet, auch wenn sie ihre ganz eigene Variante entwickelte. Sie stickte und nähte auf Leinwand und verwendete Leinenschläuche, die vom Publikum aufgeblasen werden konnten.
Auch „Die dritte Dimension in der Malerei – Tritt ein“ lädt 1981 zum Mitmachen ein. In einem Raum aus blauen Wollfäden hängt eine mit Perlen geschmückte Himmelsdecke herab. Man muss nur Platz nehmen auf einem Kissen, um die Skulptur in Interaktion sinnlich zu erfahren, als würde man ein Bild betreten.
Oder ein Buch: In der Installation „Traum von alten Möbeln“ von 1985 transportiert Onur Möbel, Stoffe und andere Dekorationsgegenstände in eine surreale Traumkulisse.
Magische Bilderwelt
Die Objekte verwandeln sich in imaginäre Wesen in einer Bilderwelt, die der von Alices fantastischer Reise durch das Wunderland ähnelt. Betrachtet man die narrativen Stränge dieser Raumfluchten, fallen eskapistische Züge auf. Das ist nicht zufällig, denn die Werke entstanden in der Atmosphäre eines aufblühenden Kunstmarkts, dem eine neoliberale Neuausrichtung der Wirtschaft vorausging.
Zugleich wurden mit dem Staatstreich alle Parteien verboten. Das Militär beherrschte das Land bis Ende der 1980er Jahre, was einen Exodus nach sich zog, aber auch einen Rückzug aus der Kunst.
Das Miniaturhafte ist unübersehbar in Onurs Werk. Man könnte es für verhuscht halten, wäre da nicht zugleich das Monumentale. Was man als eine Vorliebe für kindliche Welten missverstehen könnte, erscheint erst auf den zweiten Blick als ein politisches Statement. „Meiner Meinung nach besitzt ein echtes Kunstwerk von sich aus einen humanistischen Inhalt, ist sozial und politisch“, so Onur.
Deshalb ist man auch sofort gewillt, den mit einer schweren Kette umwickelten Stuhl, auf dessen leeren Sitzfläche ein Schild mit Onurs Namen liegt, als Selbstporträt einer Künstlerin zu deuten, die mit ihrer Art der Kunst in der Gesellschaft, in der sie lebte, mitunter die Unsichtbarkeit wählen musste.
Ob das in der heutigen Türkei immer noch so ist? In dem letzten „Raum mit Muse“ von 2023 jedenfalls, einer blauen Blase mit Hockern und Geigenmusik, ist sie abwesend. Und doch spürbar. In den vielfältigen Assoziationen, die ihre akustische Lagune in uns auslöst.