Mahlerwucht

Obwohl eine E-Gitarre eingestöpselt ist, drei Holzbalken behämmert und einhundert Nachtigall-Wasserpfeifen angeblasen werden: Die Uraufführung von „Anapher“, mit der das Gastspiel von Teodor Currentzis und seinem Orchester Musicaeterna beginnt, ist ein zartes Lüftchen gegen das, was nach der Pause in der Philharmonie losbricht.

Hatte das flimmernde Werk des jungen ukrainischen Komponisten Alexey Retinsky noch ein leichtes, keineswegs unangenehmes Gefühl von Taumel ausgelöst, kollabieren in Mahlers 5. Symphonie Welten. Currentzis’ Orchester, das er 2004 in Novosibirsk gegründet hat, spielt stehend – und das ist, wie alles an diesem hochemotionalen Abend, kein Show-Spleen.

An Afanasy Chupin, aus einer Musikerfamilie in Omsk als 16-Jähriger zum Konzertmeister von Musicaeterna berufen, kann man nachvollziehen, dass Musik eine Kunst ist, die von Körper zu Körper geht. Chupin springt und schwankt, wirft sich in die Kurve des nächsten Einsatzes. Kein Philharmoniker würde neben ihm spielen. Was für ein Verlust an musikalischer Vielfalt!

Es steckt etwas Archaisches in Currentzis’ Orchester, etwas, das Gustav Mahler an den Musikern aus Böhmen so schätzte, eine unverbrüchliche Verbindung aus Musikalität und emotionaler Direktheit. Wie ergreifend bricht der Trauermarsch im ersten Satz aus diesem stehenden Kollektiv, wie zärtlich steigen Bilder der Vergangenheit im Nebel auf, wie unerbittlich bricht jeder kühne Ausbruch wieder zusammen.

Currentzis, dessen Dirigentenpult unter Tanzschritten hörbar ächzt, nimmt die Musik in ihrer ganzen Amplitude ernst. Er schenkt sich, seinen Musiker:innen und dem Publikum nichts – und erweitert so die Skala der Wahrnehmung. In seinen explodierenden Beschleunigungen verschlucken sich Klänge, wird die Grenze des gerade Fasslichen überschritten. Doch dann tauchen die Konturen umso plastischer wieder auf, die Farben strahlen wie aus der Tiefe, und Mahler wäre den Tränen nah vor Glück.

Am 1. Dezember sind Currentzis und Musicaeterna zurück in der Philharmonie. Ihr Programm liest sich wie die kaum vorstellbare Steigerung des nachklingenden Konzerts: Auf eine Uraufführung des serbischen Komponisten Marko Nikodijevic folgt dann Schostakowitschs knochenbrecherische Vierte. Klassik ist nichts für Feiglinge.