Wenn eine Diva zur Mutter wird
Ganz allein stand Olga Peretyatko im Februar 2021 im leeren Festspielhaus Baden-Baden und sang auf Russisch Marias Wiegenlied aus Tschaikowskys Oper „Mazeppa“: „Schlaf, mein Kindlein, sanft und träume, schlaf mein süßes, schlafe ein.“ Zur raumgreifenden, sich immer wieder in die Höhe aufschwingenden Melodie wiegt sie leicht ihren Körper, die hellen Farben spiegeln sich auch in der Klavierbegleitung von Matthias Samuil. Drei Wochen zuvor hatte die Russin selbst ihr erstes Kind bekommen. Und sich stimmlich und körperlich so fit gehalten, dass sie ohne Probleme so schnell auf die Bühne zurückkehren konnte.
Das Wiegenlied ist das Ende der Oper. Maria singt es für den sterbenden Andrei, der sie in ihrer Jugend geliebt hat. „Emotional ist dieses Ende extrem, musikalisch schließt die Oper aber im Pianissimo. Maria hat durch den Tod ihres Vaters den Verstand verloren. Sie erkennt auch Andrei nicht mehr“, sagt Olga Peretyatko. Eigentlich sollte Tschaikowskys selten gespielte Oper mit den Berliner Philharmonikern unter Kirill Petrenko bei den Osterfestspielen 2021 auf die Bühne kommen. Nach der pandemiebedingten Absage ist sie nun zumindest konzertant am 10. und 12. November in Baden-Baden und am 14. November dann auch in Berlin zu hören.
Eine junge Frau liebt einen 50 Jahre älteren Mann
Was für eine Frau ist diese Maria, die Olga Peretyatko zum ersten Mal verkörpert? „Sie ist auf jeden Fall naiv. Und hin- und hergerissen zwischen ihren Eltern und ihrem Geliebten Mazeppa“, sagt sie, und berichtet weiter: „Für die Figur der Maria gab es ein historisches Vorbild: die platonische Liebe zwischen einer jungen Frau und einem fünfzig Jahre älteren Mann. Puschkin hat diese Beziehung in seinem Gedicht ,Poltava’, das die Vorlage für das Libretto bildet, noch viel dramatischer gemacht. Die Oper ist ein echter Psychothriller.“
Dass das Werk nicht wie geplant in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov auf die Bühne kommt, bedauert sie. Dem Rollendebüt in dieser groß instrumentierten Oper sieht die 41-jährige Sopranistin gelassen entgegen. „Seit der Geburt meiner Tochter ist meine Stimme tiefer und auch noch kräftiger geworden. Außerdem ist die Partie der Maria eher lyrisch angelegt.“ Den Lockdown hat Olga Peretyatko genutzt, um ein Album mit Wiegenliedern aufzunehmen. Semjon Skigin, ihr früherer Professor für Liedbegleitung an der Berliner Eisler-Hochschule, hatte schon lange die Idee dazu gehabt – jetzt war endlich Zeit dafür.
22 Wiegenlieder, gesungen in neun verschiedenen Sprachen
Dass sie während der Proben schwanger wurde, macht das Album “Songs for Maya” zu etwas Besonderem. „Für mich ist das Album natürlich sehr persönlich, weil ich die Lieder für meine Tochter gesungen habe, die aber noch nicht auf der Welt war.“ Musikalisch sind die 22 Wiegenlieder, die in neun verschiedenen Sprachen gesungen werden, bemerkenswert. In Schumanns „Der Sandmann“ zeigt die Sopranistin dunkle Farben, beim Antonín Dvorák wird die enge Kinderstube zur weiten Landschaft. Olga Peretyatkos Legatokunst schafft feinste Übergänge, Semjon Skigins sensibles Klavierspiel ermöglicht große Freiheiten. Selbst im chinesischen Wiegenlied von Zheng Jian Chun mit kleinen Verzierungen und in George Gershwins „Summertime“, in dem ihre Stimme schön hörbar in die Tiefe gleitet, schafft die Sängerin eine passende Charakteristik.
Nur manche Lieder wie Johannes Brahms’ „Gute Abend, gut Nacht“ oder Max Regers „Maria sitzt am Rosenhag“ könnten etwas mehr Schlichtheit vertragen. Aber zum Tschaikowskys hochemotionalem Wiegenlied op. 16 Nr. 1 oder auch zu Manuel de Fallas „Nana“ passt ihr vibratoreicher, runder Stimmklang ideal. Das abschließende „Mantra“, in dem Peretyatko auf Hebräisch und Arabisch, auf Armenisch und Aserbaidschanisch und auf Russisch und Ukrainisch singt, ist mehr Völkerverständigung als musikalische Offenbarung.
Bei „Mazeppa“ arbeitet Olga Peretyatko jetzt zum ersten Mal mit Philharmoniker-Chef Kirill Petrenko zusammen. „In den Proben ist er detailbesessen, aber in einem guten Sinn. Er möchte aus der Partitur besondere Farben herausholen und arbeitet stark mit Kontrasten. Dabei erklärt er immer, warum er für eine bestimmte Stelle einen besonderen Klang möchte – das ist für das Orchester wichtig“, erklärt sie. „Wir hatten die Oper schon im Frühjahr aufführungsreif geprobt. Jetzt haben wir die Musik ein paar Monate liegen lassen und greifen sie wieder auf. Das wird die Interpretation nochmals auf ein anderes Niveau heben.“