Kriminalistischer Schwarm

Vor drei Jahren hinterließ Berit Glanz mit ihrem Debütroman „Pixeltänzer“ nachhaltigen Eindruck. Darin wurde nicht nur ein schrulliger weiblicher Nerd auf eine Schnitzeljagd durch Internet und Zeit geschickt; Glanz verlinkte auch literarisch-spielerisch expressionistische Bohème mit schöner bunter Start-up-Gegenwart.

Und erzählte wie nebenbei verblüffend locker von den unvermeidlichen Kollisionen zwischen digitaler und analoger Welt.

Entsprechend hoch sind nun die Erwartungen an den neuen, zweiten Roman der 40-jährigen Literaturwissenschaftlerin und Bloggerin. Um es vorwegzunehmen: Berit Glanz meistert diese Hürde eindrucksvoll und sympathisch. „Automaton“, so der Titel, (Berlin Verlag, 288 S., 22 €.) spielt in der bislang wenig bekannten Welt der sogenannten Clickworker:innen.

In ihr wickeln zahllose User kleinere, oft eher anspruchslose Aufträge ab, im Akkord und nicht immer zum Mindestlohn; ein zumindest für Unternehmen höchst profitables „Crowdsourcing“.

Digitale Cleanerin

Eine solche Clickworkerin ist Tiff, eine alleinerziehende Mutter, die in einer deutschen Großstadt wohnt und seit einem früheren Job als Content-Moderatorin für ein soziales Netzwerk mit einer Belastungsstörung zu kämpfen hat. Schon der Gang zum Supermarkt oder Kindergarten, um ihren Sohn abzuholen, kann ihr Panikattacken bescheren.

Wen wundert’s, wenn man sich wie Tiff Tag für Tag einen zerquetschten Hamster oder malträtierten Teenager nach dem anderen ansehen musste und schon froh sein konnte, wenn es nur eine weibliche Brustwarze war, die man, warum auch immer, zu zensieren hatte.

„Leid und Schmerz als endlose Kette von Momenten, die sinnlos als Clipfragmente von Computer zu Computer wanderten, sich immer wieder vor den Augen von anderen abspielten. Die Geschichten dieser Fremden waren nie zu Ende erzählt, sondern blieben stroboskoplichtartige Momentaufnahmen.“

Dennoch bescherte Tiff ihr früherer Job als digitale Cleanerin auch etwas Gutes: Glanz’ Protagonistin wittert seither nicht nur überall Bedrohungen, sie ist auch hypersensibilisiert für die Möglichkeit, dass jemand in Schwierigkeiten geraten sein könnte.

Das Browser-Fenster zum Hof

In der Erzählgegenwart ist die junge Frau froh über die Möglichkeit, von zu Hause aus stupide Online-Aufträge abarbeiten zu können, die registrierten Clickworker: innen in einem Forum namens „Automaton“ angeboten werden: Stundenlang klassifiziert Tiff für einen Hungerlohn Gesichtsausdrücke oder benennt Objekte in Screenshots, bis sie sich so ausgeleert fühlt, „als wären keine Wörter mehr in ihr. Durch ihr Inneres rauschen die gesehenen Bilder.”

Nicht minder monoton scheint zunächst ein neuer „Autob“, wie die Aufträge heißen, bei dem es darum geht, für ein Security-Unternehmen namens „ExtraEye“ stundenlange Videosequenzen zu überprüfen. Vollmundig wirbt ExtraEye damit, seinen Kunden einen KI-unterstützten Überwachungsservice anzubieten.

In Wahrheit sind es einsame, irgendwo auf der Welt vor ihren Rechnern sitzende Clickworker:innen wie Tiff, die all die Aufnahmen von Überwachungskameras in irgendwelchen namenlosen Produktionsanlagen, Laboren oder auf Containerplätzen anschauen und akribisch jede Veränderung oder Bewegung notieren. Nicht zuletzt deshalb müssen alle Auftragnehmer, auch Tiff, eine Geheimhaltungserklärung unterzeichnen.

Der neue Job ist so langweilig, dass Tiff nach einer „weiteren Stunde hirnzerfressender Ereignislosigkeit“ anfängt, zu den Aufnahmen Hörbücher zu hören, vor sich hin zu träumen oder den wenigen Personen, die wiederholt auf den Clips zu sehen sind, Namen zu geben. Wie dem neugierigen Security-Mann „Mister Cap“ oder der eifrigen „Miss Softdrink“, die in einem mysteriösen Labor immer wieder Käfige inspiziert.

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Oder wie „Mr. Beard“: Eine der Kameras ist auf ein verschlossenes Rolltor gerichtet, vor dem es sich ein bärtiger Obdachloser mit seinem Schlafsack gemütlich gemacht hat. Nacht für Nacht liest Mr. Beard in der offenbar windgeschützten Ecke seinem Hund aus Krimis vor und hat keine Ahnung, dass ihn jemand dabei beobachtet.

Doch bald schon ist Mr. Beard auf den Rolltor-Clips verschwunden. Und wenig später auch sein Hund.

Von nun an gewinnt „Automaton“ veritable Krimiqualitäten, und der Werbespruch des Verlags, „Das Browser-Fenster zum Hof“, in Anspielung auf den Hitchcock-Klassiker, ist durchaus treffend: Denn während einer echten KI das Schicksal des bärtigen Obdachlosen „herzlich“ egal gewesen wäre, ist Tiff sofort im Panikmodus.

Dass dem Mann etwas Schlimmes passiert ist, davon ist die junge Frau überzeugt. Nur was? Und was kann sie tun, wie kann sie Mr. Beard und seinen Hund überhaupt finden, ohne zu wissen, wo sich das Rolltor befindet? Noch dazu als traumatisierte Einzelkämpferin, die sich Ärger mit ihrem Auftraggeber nicht leisten kann?

Aber so allein ist Tiff gar nicht. Was ihr zugutekommt, ist ein Umstand, von dem weder die Überwachungsfirma noch die Betreiber des Automaton-Forums etwas wissen: Denn als clevere Freiberuflerin hat sich Tiff längst vernetzt.

Umgestülpter Überwachungsroman

Und so, wie sie sich als alleinerziehende, dauererschöpfte Mutter im Alltag auf die Hilfe zweier Nachbarn verlassen kann, so beruflich auf den Online-Austausch mit Kolleg:innen wie „Nik78“ oder „Stariseria“ in einem geheimen Chatkanal. Zusammen mit dem schwulen Mikael aus dem dritten Stock und Frau Schwalbe aus dem ersten sind ihre Kolleg:innen so etwas wie Tiffs Ersatzfamilie.

Ob und wie es dem, aus Sicht der Auftraggeber, „kopflosen Klickwork-Schwarm“ gelingt, Sherlock Holmes zu spielen, sollte jede:r selbst nachlesen. Zusätzliche Spannung erzeugt Berit Glanz mittels eines zweiten Handlungsfadens über eine ehemalige Marihuana-Ernterin. 

Lange bleibt unklar, wie dieser Strang mit Tiffs Geschichte zusammenhängt, oder dem Wechsel der Darstellungsform, in diesem Fall durch die Wiedergabe der Chatprotokolle von Tiff und ihren Freund:innen.

Man kann in „Automaton“, diesem umgestülpten Überwachungsroman, eine ironische Antwort auf Dave Eggers sehen, der zuletzt in der Dystopie „Every“ einmal mehr vom Horror der Digitalisierung erzählte.

Denn worum es Berit Glanz in ihrem lesenswerten, berührenden Roman geht, ist die Frage, ob in unserer digitalisierten Gegenwart noch Menschlichkeit und Solidarität möglich sind, trotz Vereinzelung, prekärer Beschäftigungsverhältnisse und sich verändernder Arbeitswelten. Ganz nebenbei ist ihr mit „Automaton“ ein augenzwinkernder Kommentar zur mitunter hysterisch anmutenden Debatte über Künstliche Intelligenz gelungen.