Schön zerbrochene Bilder

Auf einer seiner Sehnsuchtsreisen zu den Quellen der modernen Poesie besuchte der Dichter Norbert Hummelt vor einiger Zeit die Grabstätten Stefan Georges und Rainer Maria Rilkes in der Schweiz

Sein damaliger Bericht über diese Reise lässt erahnen, was ihn mit den großen Geistesaristokraten verbindet: Es ging um den Versuch, eine spirituelle Verbindung zu jenen poetischen Einzelgängern herzustellen, die sich inmitten der politischen Katastrophen zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen hohen Ton bewahrten, ganz im Gegensatz zu ihren literarischen Zeitgenossen, die in den Formzertrümmerungen des Dadaismus und Expressionismus einen neuen Weg aus dem Chaos suchten.

Seit Beginn seines literarischen Schreibens in den frühen 1990er Jahren hält sich Hummelt konsequent fern von den Rummelplätzen des Literaturbetriebs und nutzt stattdessen jede Gelegenheit, an die fortdauernde Aktualität seiner poetischen Vorbildfiguren zu erinnern.

Er hat seit 2006 so traditionsbewusste wie eigensinnige Übersetzungen der großen Weltpoeten William Butler Yeats, T.S. Eliot und Inger Christensen vorgelegt, und er ist in seinen eigenen Gedichten dem Weltgefühl dieser alten Meister viel näher als den Erregungskurven der jüngsten Lyrik-Debatten. In seinen jüngsten Bänden „Fegefeuer“ (2016) und „Sonnengesang“ (2020) wiederholt er die poetische Jenseitswanderung von Dantes Commedia und entwirft einen religiös inspirierten Gesang auf die Schönheit der Schöpfung.

Blick auf das “Wunderjahr der Worte”

Das Jahr 1922 beschreibt er in seinem neuen Buch (Luchterhand Literaturverlag, München 2022. 416 Seiten, 22 €.) nun ganz ungebrochen als das Annus mirabilis der modernen Literatur, in dem in einer Art Urknall ein neues literarisches Universum entstand: Meisterwerke wie James Joyces’ “Ulysses” und T.S. Eliots epochales Langgedicht “The Waste Land” erblickten das Licht der Literaturwelt, und Rainer Maria Rilke meldete in seinem schmucken Wohnturm in Muzot im Wallis die Vollendung seiner Sonette an Orpheus und der Duineser Elegien.

„Was mochte es bedeuten“, so fragt nun Hummelt im Blick auf das „Wunderjahr der Worte“, „dass so bedeutende wie gegensätzliche Werke einander fast in Raum und Zeit berührten?“

In seiner emphatischen Archäologie des Jahres 1922 ist eine gewisse kulturtheoretische Verlockung spürbar, die darin liegt, die mehr oder weniger zufällig zeitgleich verlaufenden Ereignisse zu einem großen Panorama einer weitreichenden ästhetischen Umwälzung umzudeuten.

In seiner Darstellungsform wählt Hummelt ein Verfahren, das seit Florian Illies’ Bestseller 1913 Schule gemacht hat. In einer raffinierten Technik der Synchronisierung politischer, kultureller, wissenschaftlicher und sportlicher Ereignisse montiert er die unterschiedlichsten Geschichtssplitter aus Europa und den USA zu einem Epochenbild.

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Die mehr oder minder aufregenden Begleitumstände rund um die Publikation des „Ulysses“ und des „Waste Land“ und die triumphalen Erfahrungen Rilkes werden zusammengeführt mit den einschneidenden Ereignissen der Zeitgeschichte, etwa der Ermordung des deutschen Außenministers Walter Rathenau, dem Bürgerkrieg in Irland oder der galoppierenden Inflation, die die junge Weimarer Republik schon früh in Existenznot bringt.

Hummelt hat sich einiges einfallen lassen, um eine rein positivistische Addition zeitgeschichtlicher Daten zu vermeiden. In einem lockeren, entspannten Erzählton schildert er das Gegeneinander der diversen avantgardistischen Impulse und die Rivalitäten zwischen den einzelnen Akteuren der Jahrhundertwerke.

Virginia Woolf mokierte sich etwa über den „langweiligen“ Ulysses, sie fühle sich beim Lesen wie „beim Anblick eines Halbwüchsigen, der sich seine Pickel aufkratzt“. Ähnliche Unverträglichkeiten traten zwischen Joyce und Marcel Proust auf, dem Verfasser der „Recherche du temps perdu“, der 1922 über der Bearbeitung des Kapitels „Sodom et Gomorrhe“ starb.

In das Gewimmel der Avantgardismen hat Hummelt wie beiläufig die Geschichte seiner Großmutter Franziska Kemmerling einmontiert, die 1922 ihren späteren Mann kennenlernt und erstmals ihren engen Lebensradius im niederrheinischen Neuss verlässt.

“Waste Land” erscheint, Lenin erleidet einen Schlaganfall

An manchen Stellen geraten die Geschichten der avantgardistischen Aufbruchsbewegungen sehr ins Anekdotische: „Wann immer sich die Gelegenheit ergab, gönnt sich Eliot ein paar nette Stunden mit Mary Hutchinson, die wir uns als seine beste Freundin vorstellen dürfen. Mary muss in diesen Wochen besonders beschwingt gewesen sein, denn sie hat Virginia Woolf auf der Treppe geküsst, wie diese in ihrem Tagebuch festhält.“

Dafür entschädigen die hinreißenden Passagen, in denen Hummelt die Umtriebigkeit des passionierten Netzwerkers T.S. Eliot festhält, der seinem Jahrhundertgedicht, das nur aus einem „Haufen zerbrochener Bilder“ und frei gestalteten Dialogszenen und Zitatmontagen besteht, die gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen versteht. Am 15. Dezember 1922, dem Erscheinungstag von Eliots „Waste Land“, erleidet Lenin seinen zweiten Schlaganfall. Während der Weltdichter Eliot die Idee eines geistigen Europas in ein völlig neuartiges Langgedicht mit Anmerkungsapparat integriert, dämmert in Moskau die Ära eines mörderischen Kommunismus herauf.

In seiner furiosen Collage hat Norbert Hummelt eine Fülle folgenreicher literarischer Urszenen im Annus mirabilis festgehalten. Die Schauplätze der poetischen Moderne werden kartografiert, die literarischen Akteure in ihren Alltagsritualen gezeigt, mit detaillierten Analysen der epochemachenden Werke hält sich der Autor jedoch zurück.

Entstanden ist ein Mosaik aus privater Biografie, nüchterner Chronik und einem aufregenden Dossier zu den Eifersüchteleien und Platzkämpfen herausragender Dichter. Und nebenbei beginnt Hummelt eine Erzählung, die man als ein literarisches Versprechen lesen kann: die Geschichte seiner Großmutter, die sich als der Anfang eines Familienromans erweisen könnte.