„Anima – Die Kleider meines Vaters“ im Kino : So lange die Seele nicht frei ist
„Wenn die Wunden längst verheilt sind, tun die Narben weh, du brauchst ein ganzes Leben, um die Kindheit zu verstehen”, singt Romy Haag in ihrem Song „Meine blaue Gitarre“. Ganz so lang hat Uli Decker nicht benötigt. Doch etwa zwei Jahrzehnte brauchte auch sie, um eine angemessene Form für die Annäherung an die eigenen frühen Jahre zu finden. Erstaunlich sind diese Schwierigkeiten nicht, denn es gab ein spät und schockartig eröffnetes Familiengeheimnis. Außerdem stand Decker als Filmemacherin vor der schwierigen Frage, ob und wie viele dieser intimen Erkenntnisse sie öffentlich machen sollte. Sie wusste, dass diese auch für andere bedeutsam sein würden. Es war auch ein Akt des Verrats.
High Heels, eine Perücke, Schminkutensilien im Nachlass
„Was gibt mir das Recht, deine Schätze ans Licht zu zerren?”, fragt Decker im Voiceover. Der Angesprochene ist der Vater. Der Schatz ist eine Pappschachtel mit seinem privaten Nachlass, die die Tochter nach einem tödlichen Unfall von der Mutter erhielt: Darin High Heels, eine Perücke, Schminkutensilien. Und Tagebücher, in dem er ausführlich und reflektiert von seinem „Travestieren“ berichtet, das er seit der Jugend als Ministrant und dann als Lehrer in der oberbayerischen Provinz heimlich praktizierte. Nach außen gab er den biederen Vorstand einer erzkatholischen Zwei-Töchter-Vorzeigefamilie.
Für Tochter Ulrike waren die Eröffnungen besonders erschütternd, weil sie selbst als Kind stark mit der ihr zugewiesenen Gender-Rolle gehadert hatte („Alles was Spass machte, scheiterte daran, dass ich ein Mädchen war.“) und sich nicht als Prinzessin sondern als – mit Vorliebe bärtigen – Pirat oder Cowboy imaginierte. In der Familie fand sie dafür kein Verständnis und fühlte sich ungesehen, besonders vom Vater, dessen Depressionen das häusliche Leben kontaminierten. Erst als Ulrike nach dem Tod des Vaters von dessen Geheimnis erfuhr, erschienen ihr diese plötzlich auch als Spiegelbild eigener Erfahrungen – und schufen neue Verletzungen, aber auch Verbundenheit.
Das Gespräch war nicht mehr möglich, so bleibt der an den Vater gerichtete Film „Anima – Die Kleider meines Vaters“ der einzige Weg, in einen Dialog zu treten. Das in ausführlichen Auszügen vorgetragene Tagebuch ist die Grundlage der persönlichen Annäherung und (neben Gesprächen mit Mutter, Schwester und der Familie nahestehenden Menschen) ihre wesentliche Quelle. Daraus wird auch deutlich, dass Helmut Decker durch sein Cross Dressing keineswegs eine eigentliche geschlechtliche Identität als Frau markieren wollte, sondern – wie er in Anlehnung an C. G. Jungs Anima-Begriff etwas schwülstig formuliert – von dem Bestreben angetrieben wurde, „im Transzendieren meiner männlichen Rolle meiner Seele Freiheit zu verschaffen“.
„Ich frage mich, warum die Grenze zwischen Mann und Frau so sehr bewacht wird“, sagt die Filmemacherin es selbst etwas nüchterner in ihrem verbalen Leitfaden durch den an Witz und inszenatorische Ideen übersprudelnden Film. Da sieht man Ritter und amerikanische Ureinwohner in den funkelnden collagierten Animationen von Falk Schuster und Julian Quitsch vor der prächtigen Alpenkulisse. Ein Suizidversuch erscheint als retuschiertes Heiligenbild. Und zu Mozart-Arien psychedelisch zerdehnte Re-Inszenierungen väterlicher Erfahrung stehen neben Archivbildern aus dem Oberbayern der spießigen Nachkriegsjahre.
(Jetzt in den Berliner Kinos Delphi Lux, Hackesche Höfe, Tilsiter-Lichtspiele, Wolf und Xenon)
Noch einmal Jahre hat die technisch und emotional herausfordernde Arbeit am Film selbst gedauert. Das Ergebnis sieht trotzdem ganz leicht aus. Dabei gelingt es Decker hervorragend, aus den ganz persönlichen Erfahrungen zwischen Dirndl-Zwang, erster Kommunion, Sexualkundeunterricht und den Erwartungen an ein erwachsenes Frauendasein den auch heute vielerorts noch wirkenden Druck durch allgemeine gesellschaftliche Rollenanforderungen („Unter diesen Bedingungen wollte ich kein Mädchen sein.“) herauszuarbeiten.
So reiht sich ihr Film in die erfreulicherweise stetig wachsende Reihe von künstlerischen Arbeiten, die in der Verweigerung solcher Rolle und der Ermutigung zum Dazwischen an der starren Kristallisation der Geschlechter rütteln. „In meiner Fantasie war ich immer noch alles gleichzeitig“, sagt Decker. „Ein Junge, ein Mädchen, ein Abenteurer.“ Silvia Hallensleben
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