Ein Ort der Begegnung, aber bitte ohne Kontakt
Man muss diesen Satz laut lesen, so unwirklich klingt er. Am heutigen Donnerstag beginnt die 72. Berlinale, mit Publikum, in Indoor-Kinos – und das bei einer Rekord-Inzidenz. Am Mittwoch wurde die Leipziger Buchmesse Mitte März abgesagt, vor einigen Wochen hat der Berliner Senat die Präsenzpflicht an Schulen ausgesetzt. Aber die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth verteidigt voller Emphase die Durchführung der beliebtesten Kulturveranstaltung des Bundes – und einer Berliner Institution.
Es stimmt, die Kultur hat genug gelitten, wie übrigens auch die Kinder und Jugendlichen. Dass die Politik dennoch unterschiedliche Maßstäbe anlegt, gehört zu den großen Mysterien nach zwei Jahren Corona-Zickzackkurs. Keine Frage, die Gesellschaft braucht Kultur. Einfacher können wir einen Austausch von Ideen und Weltanschauungen, den so dringend nötigen Dialog in einer polarisierenden Zeit wie dieser kaum haben. Auch der Kinobetrieb läuft seit Monaten wieder, wenn auch mäßig; eine Absage der Berlinale wäre schwer zu vermitteln.
Dass die Vorfreude trotzdem verhalten ausfällt, hat viel mit einer allgemeinen Unsicherheit zu tun. Prognosen über den Verlauf der Pandemie hatten zuletzt eine geringe Halbwertszeit. So hieß es vergangene Woche seitens des Robert Koch-Instituts, dass der Peak der Omikron-Welle sich verzögert – wohl wegen der Wirkung der Kontaktreduzierungen. Verwirrend auch, dass sich das Boostern zwar als Schutz vor Corona-Erkrankung und -Tod, nicht aber vor der Infektion entpuppte. Möchte man sich da mit fremden Menschen, getestet, maskiert, in halb volle Kinosäle setzen? Das Berlinale-Gefühl, das den Berliner Winter sonst für zwei Wochen erträglich macht, stellt sich dieses Jahr bei vielen nicht ein.
Diese Berlinale ist politisch erwünscht
Trotzdem gibt es Gründe für eine Berlinale in Präsenz. Zum einen ist ein Filmfestival keine Messe; sie findet dezentral an vielen Orten statt. Darum wurde der European Film Market im Gropius Bau frühzeitig ins Internet verlegt. Wie vertretbar das Gesundheitsrisiko auf großen Kulturveranstaltungen letztlich ist, darüber gibt es, wie die Entscheidungen in Berlin und Leipzig zeigen, unterschiedliche Meinungen. Die Frage hat eine politische und eine persönliche Dimension. Die eigene Gesundheit und die unserer Mitmenschen liegt in unser aller Verantwortung.
Kultur ist kein Selbstzweck. Sie setzt gesellschaftliche Bindekräfte frei, schafft Gemeinschaft und Öffentlichkeit. Nur wo hört die kulturelle Grundversorgung auf? Kultur kehrt ja nicht erst mit der Berlinale in unseren Alltag zurück. Brauchen wir das Filmfestival zu diesem Zeitpunkt?
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Diese Frage muss nun jede und jeder für sich selbst beantworten, nachdem die Politik ihre Entscheidung getroffen hat. Claudia Roth nennt die Filmfestspiele ein „Zeichen der Hoffnung“. Nur: An wen richtet sich dieses Signal? Ein Gemeinschaftsgefühl, so sehr wir alle uns danach sehnen, lässt sich nicht per Dekret verordnen. Und natürlich hat Roth auch ein persönliches Interesse, sie kann die Berlinale als Erfolg in ihrer noch jungen Amtszeit verbuchen. So bekommt man nach den Verlautbarungen den Eindruck, dass das Festival auf Biegen und Brechen durchgezogen werden soll. Nur was das Publikum möchte, wurde bislang nicht gefragt.
Die Berlinale ist mehr als eine Leistungsschau des Weltkinos. Es ist ein Festival für die Allgemeinheit. Doch viele Filmfans werden dieses Jahr dem Festival aus gesundheitlichen Gründen fernbleiben; aufgrund der Reisebeschränkungen kommen auch weniger Stars nach Berlin. Wie viel von einem Gemeinschaftsgefühl unter den strengen Sicherheitsmaßnahmen und Abstandsregeln bleibt, könnte sich als Stresstest für die ganze Kultur erweisen.
Ob man die Berlinale braucht, ist da vielleicht die falsche Frage. Wollen wir sie uns schon wieder leisten? Die Pandemie ist nicht mehr der Ausnahme-, sondern der Normalzustand. Das Virus hat die Gesellschaft deformiert, die soziale Distanz ist so leicht nicht mehr zu überwinden. Das Kino könnte dafür aber ein guter Ort sein.