Die vielen Gesichter des Feminismus
Gerade einmal 16 Jahre ist Shanti alt, als sie gegen ihren Willen mit einem doppelt so alten Mann verheiratet wird. Sie muss die Schule abbrechen und ihrem Ehemann in sein Heimatdorf folgen. Shanti fühlt sich dort einsam und wie eine Gefangene im eigenen Haus. Für alles muss sie ihren Mann um Erlaubnis fragen. Das Recht, selbstbestimmt ihr Leben zu gestalten, wird ihr verweigert.
Die Geschichte der jungen Nepalesin ist auch die von vielen anderen Frauen, die damit aufwachsen, dass ihr Leben weniger wert ist als das eines Mannes, die Unterdrückung erleben und keine eigenen Wünsche, Bedürfnisse oder Meinungen haben dürfen. Von dem Leben der jungen Frau handelt der Comic „Shanti: Hinter dem Schleier“ von Bandana Tulachan.
Mit gedeckten Farben und wenigen Strichen erzählt die nepalesische Künstlerin von Shantis schwierigem Werdegang und wie diese sich Stück für Stück aus dem für sie vorbestimmten Leben befreit.
In einem großangelegten Projekt verhilft die Illustratorin und Designerin aus Kathmandu zusammen mit vielen anderen Künstler:innen solchen Frauenschicksalen zu mehr Sichtbarkeit. Dabei zeigt sich aber auch, dass Frauen nicht nur Opfer der gegebenen Umstände sind, sondern mutig für ihre Rechte kämpfen und somit für Veränderung sorgen.
2020 startete das Goethe-Institut Indonesien einen Aufruf für die Erstellung von Comics über feministische Bewegungen. Der Fokus liegt dabei auf den Ländern des globalen Südens sowie auf den Kämpfen indigener feministischer Aktivist:innen. Ziel des Projektes ist es, das Wissen darüber, das bislang nur selten in Geschichtsbüchern und Archiven auftaucht, zu erhalten und für viele Menschen zugänglich zu machen.
Präsentation auf dem Festival ComicInvasion
Aus über 200 Bewerbungen wurden 16 Geschichten ausgewählt, zehn davon sind nun unter dem Titel „Movements and Moments – Indigene Feminismen“ als Buch erschienen (Jaja-Verlag, 316 S., 27€). Die anderen werden auf der Internetseite www.goethe.de/movementsmoments veröffentlicht.
An diesem Sonntag um 15 Uhr wird der Sammelband bei der ComicInvasion im Berliner Museum für Kommunikation vorgestellt (hier geht’s zur Website des Festivals). Sonja Eismann vom Missy Magazine, Mitherausgeberin des Bandes, wird bei der Veranstaltung mit der philippinischen Künstlerin Nina Martinez sprechen, die den Comic „Lasst den Fluss frei fließen“ gezeichnet hat.
In ihrem Comic sowie auch in einigen anderen Werken kommen – aus westlicher Sicht – ganz neue Facetten des Feminismus zum Vorschein, die vor allem in Ländern des globalen Südens eine Rolle spielen. So ist der Kampf der Frauen für ihre Rechte in den indigenen Kulturen oft eng mit dem Kampf um Territorien, dem Schutz der Umwelt sowie dem Respekt indigener Kulturen verknüpft. Es geht dabei um die Macht großer Konzerne und wirtschaftliche Interessen, die über allem zu stehen scheinen.
„Lasst den Fluss frei fließen“, für die das unabhängige literarische Non-Profit-Kollektiv Gantala Press, das von philippinischen Feministinnen gegründet wurde, die Texte verfasst hat, erzählt die Geschichte indigener Aktivistinnen, die in der nordphilippinischen Region Cordillera den Bau eines Staudamms verhindern wollen.
Vielseitige Themen und Stile
Mit dem Vorhaben greift die Regierung in die Territorien mehrerer indigener Stämme ein und droht die dortige Natur zu zerstören. Der Fluss Chico, der durch das Land fließt, ist in diesen Kulturen heilig und bedeutet Leben. Der Konflikt eskaliert, Militärs versuchen den Bau in der betroffenen Region durchzusetzen, Indigene werden eingesperrt oder getötet. Aber die Frauen leisten Widerstand: Sie bilden Barrikaden und entblößen vor den Soldaten ihre tätowierten Körper. Schließlich sehen auch sie sich gezwungen, zu den Waffen zu greifen.
Martinez vermittelt die Ereignisse in detaillierten Zeichnungen und einer abwechslungsreichen Seiten- und Panelgestaltung. Rot- und Grüntöne dominieren in den Bildern, sind mal kraftvoller, mal dezenter. All das schafft einen dynamischen Erzählverlauf und unterstreicht eindrucksvoll die Dramatik des Geschehens.
Die Themen in den Comics, in denen Frauen mutig und entschlossen gegen vorherrschende Umstände aufbegehren, sind so vielseitig wie auch die künstlerischen Stile, in denen die Geschichten grafisch Gestalt annehmen. Es geht um die Gründung von Frauengewerkschaften in Bolivien und Ecuador und um feministische Bewegungen, die Frauen über Bildung dazu befähigen, häuslicher Gewalt zu entfliehen und ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Dazu zählt auch, die eigene sexuelle und geschlechtliche Identität offen ausleben zu dürfen.
Ein Kampf, der sich lohnt
Die indigene LGBTQIA+-Bewegung in Brasilien steht im Mittelpunkt des Comics „Für das Recht auf Existenz“ der brasilianischen Künstlerin Tais Koshino. Darin wird die Entstehung der Bewegung nachgezeichnet: Dass einst der Kolonialismus den indigenen Völkern die Heteronormativität als einzig gültige Lebensform aufgezwungen hat. Wie sich über Bewegungen und Kollektive in Brasilien immer mehr queere Menschen untereinander vernetzen, sie Präsenz und Anerkennung in der Gesellschaft erhöhen und zugleich auch indigene Kulturen stärken.
Trotz aller Erfolge müssen sie dennoch immer wieder Rückschritte erleben: Zu erfahren ist auch, dass Brasilien laut Statistiken eines der gefährlichsten Länder weltweit für Umweltschützer*innen und indigene Völker ist, außerdem werden hier die meisten LGBTQIA+-Menschen getötet.
[Mehr über aktuelle feministische Comics in diesen Tagesspiegel–Beiträgen: Ausbruch aus der Schönheitsfalle, Grundkurs in Feminismus, 30 Frauen, die den Comic verändert haben.]
Ein schlüssiges Pendant dazu liefert die sehr persönliche Geschichte einer indischen trans Frau und Künstlerin. In dem Comic „Zeiten ändern sich“ von Chandri Narayan und Sadhna Prasad blickt die Protagonistin mit dem Blick von heute auf die Vergangenheit, die längst abgeschlossen ist. Ihre Kämpfe sind bereits ausgefochten. Dass sie auf ihrem Lebensweg viele Hindernisse zu überwinden hatte, sie in der traditionell geprägten Dorfgemeinschaft auf wenig Akzeptanz stieß, wird nur angedeutet.
„Das Leben fühlt sich plötzlich an wie ein Traum, in dem gute Erinnerungen viele der tiefsten Schmerzen zu verdecken scheinen“, heißt es an einer Stelle. Inzwischen stimmen ihr äußeres und ihr inneres Ich überein, auch dank einer geschlechtsangleichenden Operation. Sie kann frei leben, umringt von ihrer kleinen Community, die sie als ihre Familie betrachtet. Und sie hat gelernt, sich selbst zu lieben.
Die Bilder sind in kräftigen, geradezu leuchtenden Farben gestaltet. Sie stehen als reinster Ausdruck für eine Leidenschaft für das Leben, für das Angekommensein im Hier und Jetzt. Der Comic kann auch als Plädoyer verstanden werden, seinen Weg trotz aller Widrigkeiten zu gehen. Es zeigt, dass sich der Kampf lohnt.