Noise-Cancelling-Technologie: Auditive Filterblasen

Zum Stadtbild gehört der in sein Smartphone starrende, durch Kopfhörer von der Umwelt abgekapselte homo digitalis. Tief in seine eigene Welt versunken, trifft man ihn in U-Bahnen, Shopping-Malls und Flughäfen auf der ganzen Welt, als wäre der öffentliche Raum sein Wohnzimmer.

Mal milde lächelnd, mal im Takt zur Musik wippend, mal gestikulierend und telefonierend. Kopfhörer, so schrieb es einmal der „New Yorker“, fungierten einerseits als „Bitte nicht stören“-Schild, andererseits dazu die, der „Kakofonie der Stadt“ seinen persönlichen Soundtrack zu verleihen.

Wer sich im Zug „Riders on the Storm“ auflegt, wird die vorbeiziehende Herbstlandschaft durchs Fenster als schöner empfinden als derjenige, der sich im drögen Interieur der Deutschen Bahn die immergleichen Lautsprecherdurchsagen zu Verspätungen und verpassten Zügen anhört.

Der Science-Fiction-Autor William Gibson, der den Begriff des Cyberspace prägte, schrieb einmal, dass der Walkman die menschliche Wahrnehmung mehr verändert habe als jedes Virtual-Reality-Gadget. Denn schon in den 1980er Jahren, als die Sony-Geräte von Japan aus ihren Siegeszug in die Welt antraten, heulten Kulturkritiker im Westen auf: Der Walkman würde soziale Isolation und Narzissmus befeuern, seine Nutzer den Kontakt zur Realität verlieren. Ganz so schlimm kam es dann doch nicht, das selbstvergessene Musikhören hat nicht dazu geführt, dass Konzertsäle leer sind, im Gegenteil.

Jede Zeit hat ihre Gadgets, und was der Walkman in den 1980er Jahren war, ist heute der Noise-Cancelling-Kopfhörer: Ein Gerät, welches die Realitätsflucht technisch weiterentwickelt. Ein integriertes Mikrofon registriert Umgebungsgeräusche und beseitigt diese durch Gegenschall.

Realitätsflucht technisch weiter entwickelt.
Realitätsflucht technisch weiter entwickelt.

© imago images/Westend61

Das Geschnatter und Gejohle des Kegelvereins, der am Vierertisch in der zweiten Klasse der Bahn von Frankfurt bis Passau den ganzen Wagen beschallt und mit dem mitgebrachten Dosenbier immer lauter wird, wird zu einem angenehmen Hintergrundrauschen heruntergepegelt, sodass man Musik hören oder Zeitung lesen kann. Kopfhörer mit aktiver Geräuschunterdrückung sind die Gadgets für die urbanen High Performer, die schon im Studium in Klausuren Ohrstöpsel zur besseren Konzentrationsfähigkeit benutzten.

Nachteil: Man kann bei Noise Cancelling die Umgebung nur als ganzes dimmen, das heißt, man hört dann auch wichtige Informationen des Zugpersonals oder Hilferufe nicht mehr. Wissenschaftler der University of Washington haben nun eine Technik entwickelt, mit der es möglich sein soll, Umgebungsgeräusche nicht nur zu filtern, sondern auch zu selektieren.

Glenn Gould hätt’s gefallen

Neuronale Netze, die mit Klangmustern im öffentlichen Raum trainiert wurden, extrahieren im Grundrauschen des Alltags spezifische Geräusche und überlagern diese bei Wunsch mit Gegensignalen. „Semantisches Hören“ (semantic hearing) nennen die Forscher das akustische System, bei dem der Nutzer aus 20 Geräuschklassen diejenigen auswählen kann, die im Kopfhörer ausgespielt werden: Babyschreie, Staubsauger, Sirenen, Vogelgezwitscher.

Der kanadische Pianist Glenn Gould, der beim Üben von Mozart-Stücken einst den Staubsauger einschaltete, um sich besser auf den Kontakt zu den Tasten zu konzentrieren, hätte mit einem solchen Gadget die restlichen Störgeräusche unterdrücken können.

Cancel Culture leicht gemacht

Auch das musisch weniger sensible Gehör könnte aus einem solchen Gerät seinen Nutzen ziehen: nerviger und krankmachender Lärm ließe sich einfach filtern, wohltuende Klänge dagegen akzentuieren. Für ein ungestörtes Naturerlebnis im Park könnte man den störenden Klangteppich des Musikfestivals herausfiltern und stattdessen das Vogelgezwitscher hochpegeln. Cancel Culture leichtgemacht. Der Traum eines personalisierten urbanen Klangraums rückt mit der Technik in greifbare Nähe.

Ist die Idee einer stillen Stadt nicht eine dystopisch-gespenstische? Was kommt als nächstes? Datenbrillen, die Obdachlose ausblenden? 

Adrian Lobe

Gleichwohl: Jede Stadt hat ihren eigenen Sound, ihre eigene Klangkulisse. Die Ansage „Mind the Gap“ in der Londoner U-Bahn ist so eingängig, dass sie auf T-Shirts gedruckt wird. Die Sirenen der New Yorker Polizei, die man aus Filmen kennt. Oder der Jingle „Da-da-DA-da“, der Bahnreisende an Pariser Bahnhöfen begrüßt.

Man hört sofort, in welcher Stadt man ist, auch mit geschlossenen Augen. Der kanadische Klangforscher R. Murray Schafer hat schon vor Jahrzehnten herausgefunden, dass markante Geräusche Städten eine genuin akustische Identität verleihen. Der Klang der Stadt ist facettenreich und vielgestaltig – und schafft ein Gemeinschaftserlebnis (sofern man nicht taubstumm ist). Wenn aber jeder seine Umgebung mit Kopfhörern cancelt, geht diese akustische Identität verloren.

Autoposer sind keine Klangkünstler

Gewiss, man sollte Lärmverschmutzung nicht als Geräuschspektakel ästhetisieren. Die Autoposer, die mit ihren Brüllmotoren den Asphalt vibrieren lassen, sind keine Klangkünstler. Und die Dauerbeschallung in Supermärkten ist einfach nur nervig.

Aber es ist schon erschreckend, wie ignorant sich viele Bürger gegenüber Straßenmusikanten oder Demonstranten verhalten, sich geradezu taubstellen, so als gehe sie dies nichts an, als könne man seine Mitbürger einfach stummschalten. Dabei beruht eine offene Gesellschaft ja auf dem Gedanken, dass der Einzelne hinschaut und nicht weghört – sonst könnte man sich akustische Warnsignale wie Sirenen gleich sparen.

Was ist das für eine sterile Welt, in der sich Kinderschreie unterdrücken lassen? Ist die Idee einer stillen Stadt nicht eine dystopisch-gespenstische? Was kommt als nächstes? Datenbrillen, die Obdachlose ausblenden?

Die KI-Techniken scheinen die selektive Wahrnehmung des öffentlichen Raums und die soziale Isolation weiter voranzutreiben. Am Ende könnten auditive Filterblasen wie im Internet entstehen, gefällige Echokammern, in denen man nur noch das hört, was man hören will – und das Schweigen über soziale Probleme dröhnend ist.