Im neuen Treibhaus
Die Wiedervereinigung, das gehört zur Standardrhetorik oder gar den Glaubensgrundsätzen des westlichen Deutschlands, ist eine Erfolgsgeschichte. Sie setzt jene Erfolgsgeschichte fort, als die schon die alte Bundesrepublik erzählbar war: mit ihrem Wirtschaftswunder, der gelungenen Modernisierung im Gefolge von ’68 und dem ach so vorbildlichen Lernprozess aus den Nazi-Jahren.
Mit dem Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler kann man die Störungen in dieser schönen Legitimationserzählung besichtigen. Mehr noch: Man kann sie spüren – bis es wehtut.
Ziegler hat mit „Eine andere Epoche“ einen Bundestagsroman geschrieben. Einen in seiner Geschichte spektakulären und in seiner Machart atemberaubenden Roman, der sich auf die Nachtseiten der parlamentarischen Demokratie begibt – und ihnen zugleich Seite für Seite ästhetischen Mehrwert abgewinnt.
Ja, das ist ein Schlüsselroman
Seit den Romanen „Hamburger Hochbahn“ und „Nichts Weißes“, seit der sogenannten Autogeografie mit dem Titel „Wilde Wiesen“ ist Ulf Erdmann Ziegler ausgewiesen als feinsinniger Analytiker von Milieus und Mentalitäten der alten Bundesrepublik.
Eines Staates, der, was noch immer teils unbegriffen ist, mit der DDR unterging. Was danach kam, ist etwas Neues – auf der Suche nach sich selbst und seinen blinden Flecken.
November 2011: Ungläubig oder unwillig nimmt das politische Establishment in Berlin zur Kenntnis, dass zwei tote Neonazis in einem ausgebrannten Eisenacher Wohnmobil für die Ermordung von neun Menschen verantwortlich sind. Ermordet wegen ihrer Herkunft aus der Türkei und Griechenland.
Das Land lernt, NSU zu buchstabieren. Andi Nair, sozialdemokratischer Politprofi und mit vierzig schon zum vierten Mal in den Bundestag gewählt, will und kriegt einen Untersuchungsausschuss. Nair ist seit Jugendtagen engagiert gegen Fremdenfeindlichkeit, ganz wie sein Freund und Büroleiter Wegman Frost, dessen Karriere auf halbem Weg steckengeblieben ist und der aus quasi sozialdemokratischer Perspektive die Geschichte erzählt.
Sie handelt von Aufklärung und Verleumdung der Aufklärer, von Aktenvernichtung und den Mechanismen der Vernichtung politischer Gegner. Sie liefert Thesen und Hypothesen aus dem Inneren des Leviathans.
Ja, das ist ein Schlüsselroman, in dem Gerhard Schröder oder Christian Wulff mit Klarnamen vorkommen, der Leiter des NSU-Untersuchungsausschusses Sebastian Edathy sowie der FDP-Vorsitzende und Vizekanzler Philipp Rösler wiederum treten verdeckt als Andi Nair und Florian Janssen auf, die Freunde des Wegman Frost.
Aber vor allem schreibt sich „Eine andere Epoche“ ins Subgenre des Bundestagsromans ein, das etwa Heiko Michael Hartmann 2006 mit seinem experimentellen „Das schwarze Ei“ bedient hatte, das seine wichtigste Referenz aber in Wolfgang Koeppens „Treibhaus“ von 1953 findet. Das ist hoch gegriffen? Ja, das ist es, aber nicht zu hoch.
Viele vaterlose Figuren besiedeln diesen Roman
In Sachen analytischer Schärfe und politischem Sarkasmus, mehr aber noch in den stilistischen Subtilitäten und in ästhetischer Wachheit lässt Ziegler sich durchaus an Koppen messen: „Die Adventszeit hat begonnen. Die Banken sind gerettet. Limousinen werden exportiert. Mehltau der Beständigkeit senkt sich auf das Land, ein gewisser Grauton, mehr nicht. Missstände können, mit gutem Willen, beseitigt werden.“
Was klingt wie „Treibhaus“, ist „Eine andere Epoche“. Wie die surrealen Tagträume den Abgeordneten Keetenheuve, so suchen Wegman Frost Alpträume heim, die das Unbewusste der Epoche ins taghelle Bewusstsein zerren. Dass man hier sternenweit von einer nur sachlichen NSU-Dokumentation entfernt ist – der das Buch gleichwohl seinen Erkenntniswillen und sein so gründliches Erschrecken über das wiedervereinte Deutschland verdankt – signalisiert Wegman Frost gleich zu Beginn.
Da behauptet er, er könne bei Bundestagsreden den Applaus der Regierungsparteien von dem der Opposition unterscheiden. „Einfach durch den Klang. Aber das ist etwas jenseits der Politik, das behält Wegman Frost für sich.“
Ganz wie sein Jugendfreund Florian Janssen, ein Findelkind ohne Namen und gesichertes Geburtsdatum aus einem vietnamesischen Kinderhospital, ist Wegman Frost ohne leibliche Eltern bei einem Onkel im niedersächsischen Bückeburg aufgewachsen. In Niedersachsen, Inkarnation des Unspektakulär-Alltäglichen, einer Art degré zéro der alten Bundesrepublik (aber doch vielleicht ihr Herz?), kann und muss man sich selbst erfinden.
All die vaterlosen Figuren, die mit ihren vagen Herkünften den Roman besiedeln, lassen sich als Allegorie dieser alten Bundesrepublik lesen – dem als Provisorium geschaffenen Nachkriegsstaat, ein scheinbar leeres Projektionsfeld, dem von der rheinischen Peripherie her Sinn und Bestimmung eingeblasen wurden.
Seit den neunziger Jahren aber ist das aus zwei untergegangenen Staaten erwachsende Nachwende-Deutschland auf der Suche nach sich selbst und wird dabei mit den Leichen in seinen Kellern konfrontiert. Es entdeckt sich wie der an seinen Verstörungen reifende Wegman Frost.
Der immerhin hat Ellie, ein elfjähriges, manchmal etwas altkluges, jedenfalls aber widerständiges Kind (mit einem Hauch Marie Cresspahl), vaterlos geworden, als zehn Jahre zuvor Flugzeuge in die New Yorker Twin Towers steuerten. Ellie wird Wegman zum Vater befördern. Das ist ein im Privaten fast versöhnliches Ende.
Wie es für das Land ausgeht, ist ungewiss. Die realitätsblinde Nicht-Einwanderungspolitik des alten Westens und die neuen Nazis im Osten – „dieses Unheimliche am Osten“ – verhunzen die strahlende deutsche Erfolgsgeschichte. Das Land ist noch lange nicht fertig.