Voces8 im Berliner Kammermusiksaal: Kunst des Ebenmaßes
Seltsamerweise berührt die menschliche Stimme einen dann am meisten, wenn sie entweder ihre natürlichen Grenzen bis zum Exzess übersteigt (das Phänomen Operndiva) oder wenn sie es umgekehrt bei der Kunst der Zurückhaltung zur Meisterschaft bringt, wie es häufig bei A-cappella-Ensembles der Fall ist. Den makellosen, gleichsam entkörperlichten Gesang bei ebenmäßig strömendem Atem und unter Vermeidung jeglichen Vibratos beherrschen auch die Sängerinnen und Sänger der britischen Formation Voces8.
Ob sie am Donnerstagabend im restlos ausverkauften Berliner Kammermusiksaal William Byrd singen oder Antiphone von Rheinsberger und Palestrina, ob sie drei- oder sechsstimmige oder doppelchörige Gesänge anstimmen: Klangfarben- und Lautstärkewechsel (voll-)ziehen sie dabei wie Orgelregister. Die lupenreine Intonation und die Simultanität, mit der das Oktett millisekunden-synchron ein Crescendo oder raffinierte Synkopen gestaltet oder die Schlusstöne setzt, verblüffen nicht nur, sondern gehen unmittelbar zu Herzen.
Vielleicht ja deshalb, weil solch vollkommene Harmonie ein utopisches Moment birgt, ob es sich nun um Renaissance-Werke handelt oder um die zarten Sekundreibungen im wie ein Meteor verglühenden „Stardust“-Song von Taylor Scott Davis. Derart einmütig sind wir im wirklichen Leben nie. Wie fantastisch wäre es erst, wenn wir die Harmonie so mühelos erringen könnten wie Voces8. Vermeintlich mühelos: Solch unverbrüchliches Einverständnis setzt lange Proben voraus, bei Streichquartetten ist das nicht anders. Man ahnt die aufreibende Disziplin, die dahintersteckt.
Acht Menschen, ein Klangkorpus, und doch wird ihre Individualität nicht geleugnet. Mal tritt beim Konzert in Berlin die Sopranistin Andrea Haines mit ätherischem Timbre hervor, mal spitzt Tenor Blake Morgan keck hervor, um sich sogleich wieder einzureihen. Ein wenig vermisst man das Widerborstige im gefällig Monochromen oder auch das Virtuose der legendären Swingle Singers, aber Balsam für die Ohren und die Seele ist so viel musikalisches Ebenmaß allemal. Jeder der 16 Programmtitel (plus zwei Zugaben) erweist sich als präzise einstudiert und choreographiert, ebenso die kurzweiligen Zwischenmoderationen, vom Altus und Künstlerischen Leiter Barnaby Smith wie von den anderen Sänger:innen.
Im zweiten Programmteil mutiert das Klassikensemble zur Band und macht zunehmend Laune, mit einer swingenden Bourreé aus Bachs „Englischer Suite Nr. 2“ samt heiterer Lalala-Düdeldü-Silbenfolge zum Auftakt. Auf Hildegard von Bingen, Renaissance und britische Moderne folgen nun Tanzeinlagen mit Nat King Cole samt Instrumental-Imitationen und Solo-Impros oder auch der kokette Jazzsong „I Won’t Dance“. Klassik, Pop, Jazz, Folk? Das Ensemble verwischt fröhlich die Grenzen, und das Publikum dankt es ihm mit Jubel.
Dass die Fanbase groß ist, liegt auch an der Mission der Musiker:innen. Die vor 17 Jahren gegründete Formation hat sich mit ihrer gemeinnützigen Foundation der musikalischen Bildung verschrieben, veranstaltet Summer Schools, Meisterkurse und Education Hubs, vergibt Stipendien, ist auf Youtube aktiv und präsentiert auf ihrer Webseite eine umfangreiche Digital Academy.
Ich kann nicht singen? Gibt’s nicht. Wer will, kann es ausprobieren, auf voces8.com kostenlos oder für 10, 20 Dollar online eine Tallis-Partie lernen, zusammen mit Voces8-Mitgliedern Mendelssohn, Bruckner oder Folk Songs einstudieren. Jeder kann singen, jeder sollte es tun, es tut unendlich gut: Voces8 ist davon überzeugt.
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