Meine Urahnen und der rote Ballon

Große Köpfe, viereckige Körper, Schlangenarme, spitzige Nasen, Strichbeine mit Schnabelschuhe dran – so malen meist Kinder. Die französische Zeichnerin Stéphanie Marchal hat aus dem Kritzelstil samt bunt schraffierten Ausmalflächen eine Kunst gemacht: Ihre meist doppelseitigen Illustrationen der Kinderbücher von Thierry Lenain leben vom krakelig-vergnüglichen Detail. Und sie folgen dem neugierigen Kinderblick, stillen den Wissensdurst kleiner Menschen.

Im neuen Werk von Lenain/Marchal ist es wieder Sophia, die ihre Eltern mit Fragen behelligt. In früheren Büchern wollte sie wissen, was Erwachsene eigentlich nachts so treiben oder wie Mama und Papa sich kennengelernt haben (Unfall, Abschleppwagen, das Buch erschien 2020). Sie lässt einfach nie locker. Kinder lieben Wiederholungen, die Abfolge, das „dann und dann und dann“.

Ich und du und die anderen, das ist das Leben. Aufregend, wenn man begreift, Teil einer solchen Reihe zu sein. Deshalb nun die Frage „Mama, Papa. wer war vor mir da?“. Klar, erst mal die eigenen Eltern. Folgen Oma und Opa, dann deren Eltern und immer so weiter, bis zu den Höhlenmenschen, die an den Felswänden ihre Hände abmalen. Vielleicht sogar bis zum Urknall. Was schließlich im Urknall drin war, wird hier nicht verraten.

Die Haut von Sophias Papa ist hell, die ihrer Mama ist dunkel. Deshalb tauchen unter den Vorfahren der beiden afrikanische Sklaven, ägyptische Königinnen und mehltütige Ritter aus dem Mittelalter auf. Wobei das Schöne an den Büchern von Marchal und Lenain zum einen die Leichthändigkeit ist, mit der sie nicht eben leichte Themen wie Rassismus, Klassismus, Geschlecht und und die Frage nach der eigenen Identität anschaulich machen.

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Zum anderen ist da ihre Lust auf kleine, feine Sidekicks. Die Ritterzeit zeichnet Marchal als Theaterstück vor Familienpublikum. Nofretete taucht beim Museumsrundgang auf, mit ebenso aufgeweckten wie am Hosenbein quengelnden Kids. Den Urknalleffekt zaubert Sophia kurzerhand im Superman-Outfit herbei.

Hinten im Buch können Kinder ihre eigenen Omas und Uropas eintragen

Lenain war früher Lehrer, unter anderem für Kinder mit Behinderungen, mit seinen Geschichten hat er in Frankreich viele Buchpreise gewonnen. Stéphanie Marchal spurt mit Buntstiften und Finelinern nach, mehr noch, sie schert aus und bereichert den Plot um eigene, wortlose Bildergeschichten. Als Kind habe ich meine Zeichnungen Erwachsenen gezeigt, sagte die in Reims lebende Illustratorin einmal im Interview. Jetzt sei sie erwachsen und zeige ihre Bilder umgekehrt Kindern.

[Thierry Lenain, Stéphanie Marchal: Mama, Papa, wer war vor mir da? Aus dem Französischen von Andreas Illmann. Schaltzeit Verlag, Berlin 2021. 28 S., 15 €. Ab vier Jahre]

Sophia stellt die Herkunftsfrage auf der Straße. Mit bunten Luftballons in der Hand steht sie vor einem Kino, in dem am Abend „Der rote Luftballon“ läuft, wie ein Plakat verrät. Der Kinderklassiker aus dem Jahr 1956 kommt seinerseits fast ohne Worte aus.

Ein kleiner Junge findet einen roten Luftballon, der ihm alsbald folgt, als treuer Spielkamerad und Beschützer vor allzu strengen Erwachsenen und wilden Kinderbanden.

Pariser Straßenalltag, eine zauberhafte Milieustudie: Albert Lamorisses 30-Minüter gehört mit seinem fantastischen Realismus gewiss zur Ahnenreihe von Lenain und Marchal. Am Ende macht sich eine ganze Wolke voller Ballons auf und davon, im Film wie im Buch.

Abheben, weitergucken, weiterforschen, warum nicht. „Der rote Ballon“ findet sich im Netz, und ganz hinten im Buch können geneigte Leserinnen und Leser die eigenen Omas, Uropas und Urur-Verwandten eintragen.