Matt Damon geht auf eine schwierige Mission in Marseille
Man muss genau hingucken, um Matt Damon zu erkennen. Er trägt Gelbweste und Schutzhelm, sein Gesicht ist hinter einer Sonnenbrille und dem dichten Vollbart verborgen. Bill Baker, der Held von „Stillwater – Gegen jeden Verdacht“, räumt auf.
Er steht in einer Trümmerlandschaft, die ein Tornado hinterlassen hat. Zerlegt Wände mit dem Vorschlaghammer, reißt Kabel heraus, schafft Schutt weg. Stillwater, ein 50.000-Einwohner-Städtchen in Oklahoma, braucht einen Neuanfang. Für Baker, der alkoholabhängig war, seine Anstellung als Ölbohrarbeiter verloren hat und jetzt auf Baustellen jobbt, gilt das mindestens genauso.
Die Tochter soll ihre Geliebte getötet haben
Der Film von Tom McCarthy ist eine Mischung aus Sozialdrama und Krimi, vor allem aber das Porträt eines Mannes, der wieder Tritt zu fassen versucht im Leben. Damon spielt ihn großartig, mit einer Schwere, die nicht nur am Körpergewicht liegt, das er für die Rolle zugelegt hat, und einer Minimal-Mimik, die kaum einmal eine Gefühlsregung anzeigt.
Die Bilder wirken mitunter beinahe dokumentarisch, die Kamera hängt sich an Bakers Fersen, begleitet ihn zum Flughafen und von dort nach Marseille. Aus dem Mittleren Westen nach Südfrankreich, das Licht hellt sich auf, wird flirrend und gleißend. Aber Baker reist nicht als Tourist, er besucht seine Tochter Allison (Abigail Breslin), die im Gefängnis sitzt.
Die Studentin war in einem spektakulären Prozess für den Mord an ihrer Geliebten verurteilt worden, beteuert aber weiter ihre Unschuld. Baker, der jahrelang keinen Kontakt mit ihr gehabt hatte, ist regelmäßig bei ihr, bringt frische Wäsche und Grüße von der Großmutter. Bei der Begegnung in der Besucherzelle, einem deprimierenden Verschlag, beten sie gemeinsam, dann steckt sie ihm einen Kassiber zu. Es ist ein Brief mit neuen Hinweisen für ihre Anwältin.
Aber für die Anwältin ist der Fall abgeschlossen, Berufung unmöglich. „Sie muss die Strafe annehmen“, sagt sie. „Das Letzte, was Sie Ihrer Tochter geben können, ist falsche Hoffnung.“ Doch Baker versichert Allison beim nächsten Besuch, dass ihr Verfahren wieder aufgerollt werde. Ein Verrat.
[In zehn Berliner Kinos. OmU: Rollberg, Kino in der Kulturbrauerei]
„Stillwater“ wurde inspiriert vom Fall der amerikanischen Studentin Amanda Knox, die 2009 in Perugia für die Ermordung ihrer Mitbewohnerin verurteilt und nach vier Jahren Gefängnis freigesprochen worden war. Das Gerichtsdrama hatte weltweit für Aufsehen gesorgt.
Tom McCarthy macht daraus einen Ein-Mann-allein-gegen-die-Unterwelt-Thriller, bei dem es gar nicht so sehr darauf ankommt, dass Baker den wahren Täter findet. Wichtiger ist die Frage, ob es ihm gelingt, aus seiner Verpanzerung herauszufinden.
Bekannt geworden ist der Regisseur mit seinem Oscar-prämierten Drama „Spotlight“ über ein Team von Journalisten, das Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche von Boston aufgedeckt hat. „Stillwater“ ist ähnlich angenehm altmodisch inszeniert.
Baker, der sich keinen Privatdetektiv leisten kann, recherchiert mühsam Fakten, begibt sich in Gefahr. Er sucht Akim, einen jungen Mann, der in der Mordnacht mit Allison und ihrer Freundin gefeiert haben soll. Von ihm könnten die DNA-Spuren stammen, die die Polizei am Tatort fand.
Die Spur führt zu einer Hochhaussiedlung am Stadtrand, die von Drogendealern beherrscht wird. Ein Ghetto der Aussortierten mit einer Atmosphäre aus Angst und Wut, wie es zuletzt – allerdings weniger plakativ – im französischen Banlieue-Drama „Die Wütenden – Les Misérables“ zu sehen war.
Die Gegend sei zu gefährlich, um das Auto zu verlassen, hat man Baker gewarnt. Beim zweiten Besuch steigt er trotzdem aus. Jugendliche kreisen ihn mit ihren Motorrädern ein, für einen Augenblick explodiert die Gewalt.
Behutsame Annäherung an eine Frau mit Kind
Im zweiten dramaturgischen Strang wird „Stillwater“ zum Liebesfilm. Bill Baker ist ein Fremder, spricht kaum ein Wort Französisch. Um weiterzukommen, braucht er einheimische Unterstützung. Er findet sie in seinem Hotel, wo auch Virginie (Camille Cottin) für ein paar Tage mit ihrem kleinen Sohn abgestiegen ist. Nachdem sie in eine Wohnung gezogen sind, meldet Baker sich bei ihr. Sie hilft bei Telefonaten, übersetzt für ihn. Er repariert ihren Abfluss, spielt Fußball mit dem Sohn.
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Nach einiger Zeit wird Baker zum Untermieter, findet Arbeit auf dem Bau. Eine behutsame Annäherung, vielleicht gelingt es Baker ja diesmal, das Glück zu halten. Spätestens, als er dem Jungen ein Trikot von Olympique Marseille schenkt, scheint er Anschluss an die Stadt gefunden zu haben, der „Lieblingsamerikaner“ wirkt beinahe schon wie eingebürgert.
Das alles läuft zu glatt, um sich nicht doch noch zu rächen. Bei einem Essen, wollen Kolleg:innen aus Virginies Theatertruppe wissen, ob Baker Trump gewählt hat? Nein, hat er nicht. „Ich bin vorbestraft und durfte nicht wählen“. Ob er Waffen besitzt? „Ja, sogar zwei, einen Colt und ein Gewehr.“ Kein gutes Omen.
Verfolgungsjagd durch Vorstadtgassen
Die beste Szene des Films spielt im ausverkauften Stadion von Olympique Marseille. Ein Abendspiel im gleißenden Scheinwerferlicht. Baker hat Karten für sich und Virginies Sohn besorgt. Körnige Bilder zeigen den Siegtreffer für die Heimmannschaft. Das Stadion jubelt, die Kamera wackelt.
Und dann entdeckt Baker zwei, drei Blöcke weiter Akim. Nachdem er ihm in der Siedlung entwischt war, ist das seine zweite Chance ihn zu schnappen. Vielleicht die letzte, um Allison zu retten, ihre Unschuld zu beweisen. Mit dem Jungen an der Hand verfolgt Baker den vermeintlichen Mörder. Treppen hinab, vorbei an gröhlenden Fans, dann im Auto durch Vorstadtgassen. Als Baker aus dem Wagen aussteigt, tut er etwas, was er bereuen wird. Weil es wieder ein Verrat ist.
„Es gibt keine Wahrheit, nur Geschichten zu erzählen“, sagt Virginie in einer Theaterprobe. „Stillwater“ hat keine klare Auflösung. Aber der Film erzählt eine gute Geschichte.