Begrifflichkeit und Intuition: Peter Trawny besucht den Komponisten Wolfgang Rihm

Peter Trawny, der sich in zahlreichen Publikationen mit dem Werk Martin Heideggers beschäftigt hat und als einer der anregendsten Philosophen der Gegenwart gelten kann, begibt sich nach Karlsruhe, um sich mit Wolfgang Rihm zweimal zu treffen und mit ihm Gespräche zu führen.

Seit Studentenzeiten war er von der Musik dieses Komponisten fasziniert und versuchte, sie besser zu verstehen. Das Abenteuer dieser Begegnungen besteht nun darin, dass Trawny, der von den Gepflogenheiten seines Berufsstandes herkommt – ihn interessiert zunächst das Verhältnis von Musik und Denken, bekennt er in seiner Einleitung -, dabei sowohl seine Fragekunst und Gabe der Begrifflichkeit erweisen kann als auch bereit ist, sich in den Wirbel eines Künstlertums hineinnehmen zu lassen, das überkommene Konzepte souverän beiseiteschiebt.

Zunächst beruft sich Trawny auf Adornos avantgardistisches Musikverständnis, das er bei Rihm in der Formulierung wiederfindet: „Kunst, die Beschäftigung mit Kunst und das Machen von Kunst, ist bereits von sich aus eine Aufforderung zu grenzenloser Freiheit.“ Was Rihm, der an einer schweren Krebskrankheit leidet und dadurch sehr geschwächt ist, im weiteren Verlauf äußert, kann als ideale Einladung gelesen werden, sich mit seinem Werk zu befassen.

Er selbst achtet penibel auf seine Begriffe, lehnt zum Beispiel den für Heidegger wichtigen Begriff des Hörens ab, um denjenigen der Wahrnehmung zu bevorzugen, der die Aufmerksamkeit auf den Raum und die visuelle Umgebung hin öffnet, in der der Akt des Komponierens sich vollzieht.

Ähnlich wie sein Kollege Dieter Schnebel denkt er die Dreidimensionalität seiner Arbeit und sieht dabei auch insofern von sich selbst als Subjekt ab, als sein Werk vor allem während der Probearbeiten mit den Musikern, im ständigen Austesten und Korrigieren seiner Entwürfe mit ihnen, als Werk entfalteter Intersubjektivität entstehen soll. Damit will er auch die Offenheit von Sinn erreichen; er verzichtet auf festgelegte Konzepte und freut sich auf die Vielzahl möglicher Antworten, die sein Publikum geben wird.

Bei alledem schafft Rihm aus tiefstem Vertrauen in die Urkraft seiner Persönlichkeit, der er sein Werk zugleich verdankt: „Ich kalbe sozusagen. Wie ein Gletscher.“ Trawny folgt dem und deutet an, dass auch Heideggers Philosophie bereits wesentlich aus Intuition gespeist gewesen war: „Spüren und Spur gehören zusammen. Spüren ist Auf der Spur-Sein.“

Das Gespräch wird nun immer gelöster. Wenn die Rede auf Gustav Mahler kommt, möchte man selbst gerne einhaken oder Genaueres erfahren, warum Arnold Schönbergs Oper „Moses und Aron“ unvollendet bleiben musste.

Wer die Musik Rihms bislang auch nur wenig kennt wie der Rezensent, wird an ihr trotzdem rasch deren Doppelcharakter von Sperrung und Neueröffnung, von Verneinung der Gegenwart und tieferer Versenkung in die Zeit gewahr. Ein Stück wie „Astralis (Über die Linie III)“ drängt auf Entschleunigung, katapultiert sich gleichsam aus unserer Epoche heraus und heißt den Chor so leise und langsam wie möglich zu singen. In diesem Sinn lehnt Rihm den Begriff des Epochenbruchs ab und spricht lieber von einem Epochenruck, der aus dem Fortschrittsdenken ausbricht und aus Zeitlosigkeit spricht: „Gerade so eine Rückung“. Ein Benjaminsches Prinzip!

Trotz seiner Erkrankung sprudelt Rihm förmlich vor neuen Ideen. Er hat sich früher bereits mit den Gedichten von Paul Celan beschäftigt und möchte nun ein Stück komponieren, das die Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig einbezieht. Eine Stelle daraus hat es ihm angetan: „Kein Gedenken ist für die Frühen, / und auch für die Späten, die sein werden, / für sie wird kein Gedenken sein / bei denen, die spätest dasein werden.“ Ja, wenn Kunst sich nur nicht verspätet, wenn sie um die Notwendigkeit reiner Gegenwart weiß, vermag sie auch zu einem Gedenken der ungezählten Toten des Holocaust zu werden.

Gegen Ende dieser ebenso aufregenden wie trotz aller Schwere heiteren Gespräche fasst Peter Trawny seine Bewunderung für den Komponisten zusammen: „Sie haben die Kraft, die Dinge so zu sagen, als beginnen sie gerade, also ohne an gottweißwelche Diskurse anzuknüpfen.

Sie zitieren nicht, sondern all das kommt ganz und gar von Ihnen her von Anfang an.“ Trefflicher hat sich Rihm als Künstler gewiss nicht charakterisieren lassen, und Peter Trawny selbst ist gelegentlich versucht gewesen, die Philosophie hinter sich zu lassen und mit dem Erzählen aus seiner eigenen Biografie zu beginnen, wäre nicht die Ehrfurcht vor dem Meister gewesen.