Dealerin mit spiritueller Ware
Jessica hat`s geschafft. Sie hat die eigene Story zum Geschäftsmodell gemacht – also die ganz hohe Schule in unserer „Gesellschaft der Singularitäten“, wenn man die Lage der Dinge mit dem Soziologen Andreas Reckwitz beschreiben möchte.
Allerdings, das muss man Jessica lassen, ist diese Story auch wirklich ziemlich unique – und so gesehen quasi konkurrenzlos. Die Frau, die da in der Berliner Volksbühne in Gestalt der Schauspielerin Suzan Boogaerdt auf einem gediegen über dem Boden schwebenden Altar Hof hält, hat ein Auferstehungserlebnis hinter sich. Sie siedelt im Echoraum einer Jesusfigur – und dealt mit spiritueller Ware.
Das Neuro-Bio-Unternehmen „Anamnesis“, das Jessica – so erfahren wir – 1993 mit ihrem Partner Jude (Benjamin Radjaipour) gegründet hat, vermarktet erfolgreich die Idee, dass jeder Mensch über ein angeborenes Wissen verfüge, welches es dann quasi von innen heraus wiederzuentdecken gelte. Anamnesis bietet die dafür erforderliche Technologie: Das Programm „Lebensrückblick“ ermöglicht den Zugriff auf die eigenen vergessenen Erinnerungen.
Eine artifizielle Wüstenwelt
Ein Service, der in Susanne Kennedys neuem Volksbühnen-Abend „Jessica – an Incarnation“ bemerkenswert viele Fans hat. Abendfüllend wird die in Unisex-Feinripp gewandete Titelfigur jedenfalls von einer hippen Jüngerschar umstanden, die – genau wie das Setting, in dem sich der Jessica-Kult ereignet – aussieht, als sei sie via copy & paste direkt aus einem Computerspiel importiert worden.
Die Kostümbildnerin Andra Dumitrascu hat Jessicas spirituelle Follower in einen retrofuturistischen Cut-Out-Jeanslook gesteckt und Kennedys künstlerischer Partner Markus Selg eine illustrativ-artifizielle Wüstenlandschaft entworfen: Eine Ästhetik, wie man sie schon von den Vorgänger-Arbeiten des Duos – „Coming Society“ oder „Ultraworld“ – in der Volksbühne kennt.
Auch das Thema, daraus hat Kennedy nie ein Geheimnis gemacht, kreist beharrlich um das Immergleiche. Und – genau – um dessen Wiederkehr. Was ist real, was Illusion, lautet die Frage, die Kennedy in den dramaturgischen Endlosschleifen ihrer VR-Simulationswelten wieder und wieder stellt – auf Englisch, denn die Texte sind stilechte Samples aus den Blogs und Selbsterbauungsmantren, dem Eso-Kram, den Pseudophilosophismen und dem Silicon-Valley-Sprech des Netzzeitalters.
Und wie ein Ritual rollte das Ganze auch diesmal wieder ab. Buchstäblich, denn beharrlich rotiert die Drehbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, während die endlose Sinnfragen-Simulation, die Kennedy weder ersichtlich affirmiert noch kritisiert, sondern vielmehr als theatrales Erlebnisangebot hinstellt, in einem entschleunigten Einheitssound vor sich hin raunt. Eine Liturgie der Pathosformeln, die – auch dies eine angestammte Kennedy-Arbeitsmethode – nicht von den auf der Bühne stehenden Schauspielern selbst geäußert, sondern, mit anderen Stimmen, als Tonspur vorproduziert und dann im Playbackverfahren performt wird.
Die Bühnenaktion fror ein
Wer an dieses Erlebnisangebot nicht anschlussfähig ist, dem dürften die zwei Stunden in der Volksbühne sehr, sehr lang werden. Fürs Premierenpublikum allerdings gab`s immerhin einen interessanten Zwischenfall: Ungefähr in der Mitte des Abends fuhr die Technik herunter – die Bühnenaktion fror gleichsam ein. Und zwar außergewöhnlich lange.
[Nächste Vorstellungen am 27. Februar sowie am 6. und 27. März]
Die Theaterzuschauer – stets auf der Metaebene unterwegs und entsprechend gefasst auf eine dramaturgische Ausnahme-Idee – hielten`s erst mal für Konzept und begannen auf die Geduldsprobe entsprechend zu reagieren, mit Zwischenrufen, Lachen und anderweitigen Lockerungsübungen. Bis sich aus dem Publikum der technische Leiter der Volksbühne erhob und erklärte, es handele sich um eine technische Panne, man arbeite bereits daran und hoffe, dass es in zehn Minuten weitergehe. Das tat`s dann auch – aber diese Minuten der „Realness“ waren nicht die schlechtesten an diesem Abend.